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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Herzgesicht, den dunklen Mandelaugen und der großen abweisenden Stille um sich herum. Sie hält mich auf Abstand, ist streng. Sie benutzt Worte wie »benötigen« und macht bei Nebensätzen richtige Relativanschlüsse. Ich soll die Duschen putzen. Als ich fertig melde, kommt sie und guckt sich alles an. Da sind noch Streifen an den Spiegeln. Sie bückt sich, holt Haare aus dem Abfluss. Was soll das?
    Sind wir hier im Hotel oder was?, frage ich.
    Das ist nicht Yvonnes Einstellung. Du entwertest dich selbst, sagt sie, wenn du meinst, für uns gäbe es nur Sauberkeit zweiter Klasse.
    Ich muss noch mal ran. Ich lasse mir Zeit, pule die Haare aus den Abflüssen, poliere die Spiegel.
    Die andere, Selina, wischt den Schließgang, putzt die Türen. Sie ist geschminkt wie für eine Party, hütet ihre Fingernägel im French Style und schlampert bis zur Rauchpause hin. Sie legt es darauf an, dass Yvonne sie ermahnt und antreibt, verdreht dann die Augen und lacht. Sie spielt guter Häftling und böser Kapo. Wann immer wir uns begegnen mit unseren Putzutensilien, schimpft sie auf Yvonne und hofft auf meine Solidarität.
    Selina hat ihr Baby getötet. Wenn sie davon spricht, wird ihr buntes Gesicht hager und ausdruckslos. Sie redet über sich wie über eine Fremde. Sie sagt, sie hat es aus Angst vor ihrem Freund getan. Er hat ihr gedroht, sie totzuschlagen, wenn sie schwanger wird. Deshalb hat sie die Schwangerschaft vor ihm verheimlicht.
    Wie geht so was?, frage ich. Hat dein Mann deinen Babybauch nicht gesehen?
    Ich habe wahnsinnig viel gefressen, sagt Selina, ich war richtig fett.
    Aber die Risiken. Mir schwindelt beim Gedanken. Daheim ein Kind entbinden. Und was, wenn ihr Freund gerade bei ihr gewesen wäre, als es losging? War er aber nicht. Sie hatte ihre eigene Wohnung. Ach so.
    Sie hat das Baby im Bad auf die Kacheln geworfen, die Nabelschnur mit einer Schere durchtrennt, das Kind in ein blaues Handtuch gewickelt und in eine Schachtel gesteckt. Dann zog sie sich an, ging hinaus in den Winter und stellte die Schachtel hinter einem Trafohäuschen ab. Als dort einer hineinschaute, waren zwei Tage vergangen und das Kind war gefroren. Angesichts eines Massengentests der Polizei schien ihre Entdeckung unausweichlich, und sie gestand.
    Hätte es keine andere Lösung gegeben?, frage ich sie. Babyklappe, anonyme Geburt? Selina nickt. Sie war irgendwie gefangen in ihrer Welt aus Drohung und Angst. Sie versteht sich selbst nicht mehr.
    Yvonne treibt uns auseinander. Sie selbst macht die Büros auf der Abteilung. Auch an die Zellen der Abgänge lässt sie uns nicht ran. Es ist eine Vertrauensaufgabe wegen dem, was dort zurückbleibt, wenn eine nach dem Urteil in den Regelvollzug umzieht oder wenn der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt wird. Sie sammelt es in einer Kiste und liefert es ab. Am meisten bleibt liegen, wenn eine freikommt, habe ich den Eindruck. Wäsche, Plüschhäschen, Shampoos. Ab und zu findet sie einen Tauchsieder, wie Elli einen hat, zusammengebogen aus irgendeinem Metall und mit Kabeln versehen, deren blanke Enden man in eine Steckdose steckt. Und Apparate zum Tätowieren.
    Lass bloß die Finger davon, warnt sie mich. Du kannst dich mit Hepatitis C anstecken. Die Nadeln sind nicht steril.
Haftbuch, 27. März
    Ich arbeite immer noch, obwohl ich meinen Computer wiederhabe. Meine Mithäftlinge beneiden mich um die Bewegungsfreiheit während der Einschlusszeiten, aber anderen hinterherputzen wollen sie eigentlich nicht. Wenn sich eine ungerecht behandelt fühlt, kriege ich es jetzt auch ab. Für sie bin ich Teil des Apparats, der sie drückt.
    Viele sind jünger als ich und haben ausländische Wurzeln oder kommen aus Hartzvierfamilien. Selbstbewusstsein im Minusbereich. Sie fühlen sich immer gleich schikaniert und zetern los. Ständig gibt es Diskussionen, etwa ob sie mittags im Essraum rauchen dürfen, wenn keine Nichtraucherin zugegen ist.
    Yvonne nennt sie zickig. Eine Frau erträgt es nicht, wenn eine andere die Macht hat und befiehlt. Ist einfach so. Macht ist im weiblichen Sozialgefüge nicht vorgesehen. Frauen nehmen Machtverhalten persönlich. Wenn ein Brief vom Freund kommt und darin Stellen geschwärzt sind – bestimmt die liebevollen und erotischen –, wenn die Besuchszeit auf die Sekunde genau nach einer halben Stunde beendet wird, wenn eine die Mama nicht zum Geburtstag anrufen darf, dann fühlen sie sich jedes Mal persönlich bestraft. Dann sind die Schlusen besessen davon, uns ihre Macht spüren zu

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