Die Affen von Cannstatt (German Edition)
kann Ihnen hier helfen, sich normal zu fühlen. Denken Sie mal darüber nach. Eine auf sich selbst gerichtete Sexualität gilt draußen als minderwertig. Im Gefängnis ist sie die Normalform, und wer sie hier als verarmte Sexualität sieht, begeht eine Selbstentwertung.
Ach, so bist du drauf? Ein Bonoboträumer.
Sie müssen Ihre Phantasie in Gang setzen, sagt er. Damit kann man sich über den Zustand der Bewegungslosigkeit hinweghelfen. Die Phantasie kann Wege gehen, die aus der Gesellschaft hinausführen und nie mehr in sie zurückkehren. Das ist die Gefahr. Aber als Drang, sich zu befreien, ist sie notwendiger Ausdruck eines Lebens und deshalb legitim.
Ich lache nicht einmal. Ich mache mich innerlich davon.
Und Sie müssen darüber sprechen, sagt der Mann vom Sozialdienst, der beauftragt worden ist, mich zu beruhigen, und den ich kaum noch höre, weil ich dazu verdonnert bin, niemandem zu trauen, mit niemandem zu reden, damit ich nicht die Kontrolle verliere und zu viel sage.
Lisa Nerz habe ich schon zu viel gesagt. Deshalb sitze ich hier.
Schämen Sie sich nicht vor den anderen, sagt der Sozialdienstler, denen geht es genauso wie Ihnen. Auch Sie haben Träume und Fantasien. Krank fühlen Sie sich nur, solange Sie nicht darüber reden, solange Sie sich selbst verachten. Es ist notwendig, seine Fantasien nicht nur zu träumen, sondern auch auszusprechen und zu leben.
Darum brauche ich einen Computer. Oder Arbeit. Entweder oder.
Mit dem Laptop konnte ich leben, innerhalb der Beschränkungen, die mir auferlegt sind. Damit konnte ich einen Tagesablauf organisieren, der eines Menschen würdig ist, eine Mischung aus Aufstehen, Essen, Sport, Arbeit und Fernsehprogramm.
Der Sozialdienstler gibt es auf. Ich werde zurückgeschlossen.
Die Nachrichten aus dem Strafvollzug lese ich nicht zu Ende. Das Buch schürt in mir eine Amokstimmung. Andrea versteht das. Es hat auch sie runtergezogen. Was ihr hilft, sind die vielen Briefe, die sie von ihren Freundinnen und Unterstützern bekommt. Aber jetzt hat die Anstalt ihr erklärt, mehr als zwanzig Briefe dürfe sie nicht bei sich auf der Zelle haben. Reine Willkür, findet sie. Wir schauen im Gesetzbuch nach. Untersuchungsgefangene haben das Recht, unbeschränkt Schreiben abzusenden und zu empfangen. Womöglich doch Willkür? Sie wird sich beschweren.
Fortsetzung Verteidigung Camilla Feh
Kann es sein, dass ich die Letzte bin, die Schmaleisen lebend gesehen hat? Hektisch suche ich Informationen. Man weiß, dass er am Dienstag, den 23. Dezember 2008, mit dem Zug nach Stuttgart aufgebrochen ist. Zwei Wochen später wird seine Leiche an der Schleuse Hofen gefunden. Die Polizei ruft in der Zeitung und im Internet alle auf, sich zu melden, die sachdienliche Hinweise geben können. Anscheinend meldet sich niemand. Ich beobachte meine eigene Hektik, fast Panik. Was fürchte ich denn? Man kann mich doch nicht für seinen Tod verantwortlich machen.
Schmaleisen hat mich gegen Mittag angerufen. Vom Apparat eines Kollegen. Andernfalls hätte die Polizei mich über seine Handyverbindung ausfindig gemacht.
»Ich bin hier noch mit dem Kollegen zugange«, sagt er. Danach will er sich mit mir treffen. »Ihre E-Mail hat mich sehr überrascht. Mir scheint, hier gibt es ein Missverständnis. Das würde ich gern ausräumen.«
Ich schlage das Café der Kunstgalerie am Schlossplatz vor. Den Glaswürfel findet jeder, der in Stuttgart nicht zu Hause ist. Wir sitzen draußen, in Decken eingewickelt, in einer frühlingshaft warmen Dezembersonne und schauen in die flanierende Menge und auf die Weihnachtsmarktbuden, die den Blick aufs Neue Schloss verstellen.
Schmaleisen will mich überreden, mein Studium fortzusetzen. Seine beste Studentin nennt er mich. Er ergreift meine Hand und streichelt sie. Mit in weinerliche Falten gelegtem Gesicht verspricht er mir eine Stelle als Hiwi, einen Doktorandenplatz, sobald ich meinen Abschluss gemacht habe.
Warum auf einmal? Ich frage nicht. Ich will mich nicht empfindlich zeigen, werfe ihm nicht vor, dass er meine Semesterarbeit abgelehnt hat. Er tut jetzt so, als hätte er sie nie in Frage gestellt, nennt sie interessant und eigenwillig. Über das hinausgehend, was erforderlich gewesen wäre. Was ist das für einer? Ein Umfaller? Nein, ein Mann, der Frauen braucht, denke ich und ziehe meine Hand zurück. Ich behaupte, ich wolle es mir noch einmal überlegen.
»Tun Sie das«, sagt er. Es fällt ihm schwer, mich loszulassen. Er bezahlt meinen Kaffee.
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