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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Verwundert schaue ich ihm nach, wie er leicht gebeugt und etwas schief in Richtung Bahnhof davongeht und in der Menge der Weihnachtseinkäufer verschwindet. Der Tod folgt ihm wie ein Schatten.
    Hat er mir gesagt, er müsse auf den Zug? Ich kann mich nicht erinnern. Hatte er nach mir noch eine Verabredung? Oder hat er sich zu einem Spaziergang entschlossen, durch den Schlossgarten, am Schloss Rosenstein vorbei bis zum Neckar hinunter? Wer an der Schleuse Hofen angeschwemmt wird, ist hinter der Schleuse Cannstatt in den Fluss gefallen. Ich gehe im Geist das Ufer ab. Da sind die Anleger der Weißen Flotte nahe der Wilhelma. Noch leichter ist es, auf der anderen Seite von einem der Pfade am Damm zu rutschen, auf denen die Leute mit ihren Hunden spazieren gehen. Es muss längst dunkel gewesen sein. Und das Wasser ist kalt. Man stirbt innerhalb von Minuten.
    Ja, ich hätte mich bei der Polizei melden sollen. Aber der Kollege, mit dem Schmaleisen sich vor mir traf, hat es ja auch nicht getan. Zumindest steht nichts davon in der Zeitung.
    Ich rufe einige meiner Kommilitoninnen an, erzähle ihnen, dass ich mich von Till getrennt habe und mit dem Studium aufhöre, auch wegen Schmaleisen. Sie antworten: »Ja weißt du es noch nicht? Schmaleisen ist tot.« Ich tue erstaunt, und sie erzählen. Er habe Eheprobleme gehabt, seine Tochter sei drogenabhängig, seine Frau habe ihn betrogen oder er sie, er sei alkoholsüchtig oder spielsüchtig gewesen oder depressiv oder krebskrank.

Haftbuch,23. März
    Im rechtsmedizinischen Gutachten steht nichts von einer unheilbaren Krebserkrankung, berichtet mir Onkel Gerald. Gallensteine hat Schmaleisen gehabt, was zumindest ziemlich schmerzhaft sein kann. Ob Schmaleisen alkoholisiert war oder gewaltsam in den Fluss gestoßen wurde, ließ sich nicht mehr feststellen, nachdem die Leiche zwei Wochen im Wasser gelegen hatte. Die Polizei ist damals von einem suizidalen Geschehen oder Unfall ausgegangen. Seine Frau hatte in der Tat einen Liebhaber, konnte aber ein Alibi vorweisen. Außerdem beschuldigte sie ihn, ständig mit Studentinnen ins Bett gestiegen zu sein. Einen eifersuchtskranken Eindruck machte sie nicht. Sie hatte zu dem Zeitpunkt bereits die Scheidung eingereicht. Da die Polizei keine Kenntnis von einem Treffen Schmaleisens mit einem Stuttgarter Unikollegen hatte, suchte sie auch nicht nach ihm. Aber jetzt wird man das tun, sagt Onkel Gerald. Die Akte Schmaleisen ist nie geschlossen worden.
    Ob Schmaleisen irgendetwas zu mir gesagt hat, wo er hinwollte, fragt auch er mich.
    Ich habe angenommen, dass er mit dem Zug nach Tübingen zurückfahren wollte. Er hatte Weihnachtsgeschenke gekauft, daran erinnere ich mich. Hauptsächlich Bücher. Eines, ein schwarzes, sehe ich sogar noch vor mir: Psychologie der Massen von Gustave Le Bon. Eine Ausgabe von 1957, wie er mir erklärte. Er hat das Buch für fünf Euro im Kiosk im Königsbau erworben. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, warum er ein Buch kauft, das in jeder öffentlichen Bücherei und in jeder privaten Bibliothek eines Soziologen steht, weil es zu den historischen Grundlagen gehört. Er sagte, es hat ihm gefallen, dass seine Vorbesitzerin – ein Mädchen, dessen ist er sich sicher – ins innere Deckblatt eine Telefonnummer mit Herzchen gemalt hat. Er zeigte es mir. »Sieht das nicht nach einer Verabredung aus? Ein Buch als Liebesbrief.« Er fantasierte ein Mädchen, das ihrem Angebeteten auf diese wissenschaftlich überhöhte Art ihr Interesse zeigt.
    Ich blätterte und las zufällig: »Die augenblicklichen revolutionären Triebe der Massen hindern sie nicht, höchst rückständig zu sein. Sie sind instinktiv Feinde von Veränderungen und Fortschritt.«
Haftbuch, Dienstag, 26. März
    Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, es ist nicht zum Aushalten, dann gibt es einen Überschlag. Höher kann man nicht fliegen, höher schwingt die Schaukel nicht. Und selbst wenn sie sich überschlägt, so ist der nächste Weg, den sie nimmt, der nach unten. Aber wenn du unten ankommst, macht es Knacks, und etwas ist gebrochen.
    Als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich resigniere – eher glaube ich aber, dass es organisatorische Gründe sind, die mit mir nichts zu tun haben –, bekomme ich plötzlich eine Arbeitserlaubnis. Eines Morgens höre ich über die Zellenkommunikationsanlage, Ampel genannt: Fertigmachen zum Arbeitseinsatz. Eine Schluse holt mich und bringt mich in einen Raum mit Putzzeug. Dort lerne ich Yvonne kennen. Mit ihrem

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