Die Affen von Cannstatt (German Edition)
breit und voller Spitzen sind. Es könnte ein Ahorn sein. Ich werde nie hinkommen, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er steht nicht in dem Bereich, der mir zugänglich ist. Auf der Rasenfläche sehe ich hin und wieder den Wachmann mit dem Hund, der die Drogen und Handys aufspüren soll, die von draußen über die Mauer geworfen werden. An der Stelle, die ich einsehen kann, ist der Hund noch nie fündig geworden.
Früh, schon morgens, stelle ich den Fernseher an. Er betäubt die Stunden, stoppt aber nicht das Karussell im Kopf. Lesen noch weniger. Fragen quellen in mir auf.
Kann man die U-Haft nicht anders organisieren? Aus Respekt vor der Möglichkeit, dass ich die mir zur Last gelegte Tat tatsächlich nicht begangen habe?
Warum hat meine Mutter meine Geschwister getötet, aber mich nicht?
Was hätte ich anders gemacht, wenn ich nicht die Tochter einer Kindsmörderin wäre?
An welcher Stelle meines Lebens wäre die Weiche anders gestellt worden?
Dabei habe ich noch Glück gehabt mit meinen Pflegeeltern und ihrem Pelzgeschäft. Hätte meine leibliche Mutter mich aufgezogen, hätte ich womöglich nur Hauptschulabschluss und säße jetzt hier wegen wiederholten Kreditkartenbetrugs und räuberischer Erpressung. Oder gibt es das wirklich, was sie Resilienz nennen, eine seelische Widerstandsfähigkeit, die unempfindlich macht für ungünstige soziale Voraussetzungen?
Die Weichen meiner Mutter sind sicher sehr ungünstig gestellt worden. Sie ist ein Heimkind, wusste nicht, wie Familie geht. Ihr ist Unrecht geschehen, sie hat Unrecht getan, und falls sie es nicht getan hat, so geschieht ihr Unrecht, wenn sie mit internationalem Haftbefehl gesucht wird. Unrecht ist die Essenz unseres Lebens.
Das sind die Tage, an denen häufiger als sonst Klappe geworfen wird. Auch ich habe schon an der Zellenkommunikationsanlage gestanden und war dicht davor, das Notsignal zu betätigen. Behaupten, man hätte den Herzkasper oder rasende Bauchschmerzen, egal. Ein übellauniger und süffisanter Anstaltsarzt ist immer noch besser als die Folter der Leere.
Erst morgen werde ich Yvonne wiedersehen. Sie hat plötzlich Vertrauen zu mir gefasst. Beim Hofgang hat sie mir erzählt, warum sie hier ist. Sie hat in Tübingen Medizin studiert. Sie hat gewusst, sagt sie, dass Eisenhutsamen töten. Damit hat sie versucht, ihren Stiefvater umzubringen.
Sie spricht so, wie alle hier über sich sprechen. Distanziert. Aber wie sollte man auch anders sprechen? Heulend? Sich bespuckend?
Hintergrund, sagt sie, ist jahrelanger körperlicher Missbrauch, und dass er es an meinem Bruder fortsetzt. Ich hatte Gift im Haus zum Zweck, mir selbst das Leben zu nehmen. Ich habe ein Wochenende darüber nachgedacht und mich dann gefragt: Warum eigentlich ich?
Sie hat ihm das Gift ins Gulasch gemischt.
Es hätte geklappt, sagt sie, hätte ich nicht im letzten Moment einen Rückzieher gemacht. Ich habe ihn ins Krankenhaus gebracht. Die haben überhaupt nicht erkannt, was er hatte. Ich habe gesagt, ich studiere Medizin, er ist kälteempfindlich, ihm ist übel, er ist nervös, und wenn er Herzrhythmusstörungen hat, dann sollte man eine Vergiftung in Betracht ziehen. Aber die wollten mir nicht glauben. Sie wollten ihn mir immer wieder mitgeben. Da musste ich ihnen sagen: Er hat eine Eisenhutvergiftung. Ich kann ihn nicht wieder mitnehmen. Dann würde er sterben. Das kann ich nicht. Insofern hat er überlebt, und es geht ihm auch gut.
Im Rückblick, frage ich, hätte es da nicht vielleicht doch eine andere Lösung gegeben als ihn umbringen?
Sie schaut mich an. Welche? Die Ermittlungen gegen meinen Stiefvater sind nach wenigen Monaten eingestellt worden. Meine Mutter hat sich geweigert, als Zeugin auszusagen.
Nein, es hat keine andere Möglichkeit gegeben außer der, nichts zu tun. Und natürlich, sich umzubringen. So hat sie ihrem Schwiegervater das Leben gerettet und sich selbst geopfert als Täterin. Gefängnis ist sozialer Selbstmord mit der Chance auf Wiederkehr. Der Gedanke hat nichts Tröstliches.
Sie hat vom Landgericht Mannheim sieben Jahre bekommen. Ihr Anwalt meint, das sei zu viel, und hat Revision beantragt. Sie hätte lieber einen Strich darunter gemacht. Im Regelvollzug hast du mehr Freiheiten, sagt sie. Da könnte sie sich an der Fernuni einschreiben. Sie will Kunstgeschichte studieren. Sie liest schon jetzt jede Menge Bücher darüber.
Und ich werde Jura studieren, wenn ich lebenslänglich kriege. Ja, das werde ich machen. Darauf freue ich
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