Die Affen von Cannstatt (German Edition)
hättest dreißig Jahre lang zu nicht mehr als zehn bis fünfzehn Menschen Kontakt.«
Im Zoo bemüht man sich immerhin, die Tiere gesellig zu halten und mit Bastelzeug und Aufgaben zu beschäftigen. Dennoch habe ich oft gemeint, die Not der Langeweile in den Augen der Tiere zu sehen. Ein Erdmännchen, das immer wieder denselben Pfad entlangrennt. Der Mähnenwolf, der am Zaun hin- und hertrabt. Und wie fühlt sich ein Geier, der nie in seinem Leben auf der Thermik emporsteigen und Hunderte von Kilometern Land überblicken wird? Geier sind faul, haben mir die Pfleger erklärt. Sie fliegen lieber nicht, wenn sie anders an ihr Fressen kommen können. Woher weiß er das? Und was empfindet Alma wirklich, wenn sie im Sommer in ihrem Außenkäfig auf einer Holzplatte sitzt und in die unerreichbaren Bäume jenseits des Seehundbeckens starrt? In der Nase hat sie den Geruch nach Heu, Fisch, Löwe und Pommes, in den Ohren klingelt das Geschrei der Kinder, dröhnen die Motoren der Betriebswagen. Nichts davon darf sie jemals anfassen.
Von der Bonobofrau Panbanisha weiß man, dass sie einmal nach Tagen des Eingesperrtseins im Haus im Reservat in Iowa am Fenster stand und in den Wald blickte. Als ihre Betreuerin kam, zeichnete sie etwas auf den Boden, was so aussah wie das Piktogramm für einen Ort im Wald.
Mit mir haben die Bonobos nie durch die Scheibe hindurch kommuniziert, obwohl sie mich kannten. Ich bringe ihnen genauso wenig neue Reize wie die anderen Zoobesucher. Manchmal habe ich mich geschämt, weil ich permanent in ihre Wohnung starrte und sie beim privatesten Tun beobachtete.
Haftbuch, 24. April
Was ist der Mensch im Unterschied zum Bonobo? Im Bürgerlichen Gesetzbuch, das ich auf der Hütte habe, steht nur, dass die Rechtsfähigkeit des Menschen mit Vollendung seiner Geburt beginnt, nicht aber, was ein Mensch ist. Außerdem gibt es natürliche und juristische Personen, etwa Verbraucher oder Unternehmer.
Offenbar geht das Gesetz davon aus, dass wir sofort erkennen, was ein Mensch ist und was nicht. Aber wirklich immer? Ab wann ist ein prähistorisches Skelett noch das eines Affen und ab wann schon das eines Frühmenschen?
Definieren wir den Menschen als vernunftbegabtes autonomes Wesen, müsste man die Bonobos und Schimpansen dazuzählen. Sie erkennen sich im Spiegel, sie können kausal und zukunftsgerichtet handeln, sie können planen und Alternativen abwägen. Sie können sogar altruistisch und empathisch handeln und anderen helfen. Klammert man sie aus, geraten wir bei geistig Behinderten oder Dementen in eine Definitionskrise. Legt man dagegen den Kant’schen Begriff der Autonomie zugrunde, wonach der Mensch selbst erkennt, was ethisch richtig ist, und sich selbst die Normen setzt, fällt wiederum die Hälfte meiner Haftgenossinnen durchs Raster.
Haftbuch, 26. April
Nach einem Tag Sonne hat der Baum plötzlich Blättchen bekommen. Sie treiben die Blütendolden auseinander. Zartgrün und schüchtern. In der Nacht soll es aber schon wieder Regen geben und dann kalt werden. Onkel Gerald sagt, Frau Dr. Seitz hat augenscheinlich ein Alibi. Augenscheinlich? Heißt das, es könnte geknackt werden? Zerbrich dir nicht den Kopf, sagt Onkel Gerald, wir tun, was wir können. Wenn es nur mein Kopf wäre … aber ich zerbreche ganz.
Haftbuch, Mittwoch, 1. Mai
Der Tag der Arbeit ist Hohn. Draußen arbeiten sie nicht, sondern machen Ausflüge oder demonstrieren. Ich darf weder arbeiten noch demonstrieren. An christlichen Feiertagen und sonntags gibt es wenigstens Gottesdienst in der gotischen Klosterkirche Mariä Verkündigung. Wir U-Häftlinge dürfen ihn von der Galerie aus verfolgen, dicht unter der hölzernen Kassettendecke mit den Rosetten. Von oben sehen wir unten die Strafgefangenen im Regelvollzug. Unsere großen unheimlichen Schwestern. Sie sind schon dort, wo wir nicht hinwollen, aber hinkommen werden. In der Kanzel steht ein Aufsichtsbeamter. Eine Glocke schlägt nie. Im Türmchen hängt keine mehr.
Am Feiertag ohne Gottesdienst sitze ich von morgens an am Computer vor der Wand, und meine Gedanken baumeln in die leeren Stunden. Ich werde nur für ein paar Minuten andere Gesichter sehen und mit niemandem reden, abgesehen von ein paar Kommunikationsfloskeln bei der Essensausgabe. Meine Augen können sich nicht lösen von der Uhr. Die Zeiger kommen nicht voran.
Ab und zu stelle ich mich ans Fenster und schaue auf den Baum. Ich kann erkennen, dass die Blätter, die inzwischen die Blütendolden überwuchert haben,
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