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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Kivu ans Gitter. Sie hat irgendwas an der Hand, etwas Blutiges. Heidrun denkt zuerst an eine Verletzung. Man sieht den Knochen. Sie denkt an einen Streit. »Da sehe ich«, sagt sie, »dass es keiner von Kivus Fingern ist, sondern eine halbe menschliche Hand. Daumen und Zeigefinger.«
    Weber gibt einen undefinierbaren Ton von sich. Der Blick von Nerz geht kurz zu ihm.
    »Und jetzt erkenne ich auch«, fährt Heidrun fort, »da liegt einer, dort, ganz an der Wand unter den Schlafbänken.« Sie atmet hörbar. »Das Stroh ist dunkel, überall ist Blut. Auch hier im Gang, an der Wand. Mein erster Gedanke war: Die Affen müssen sofort raus da. Vielleicht ist er noch zu retten. Dabei war er nicht zu retten, das war mir eigentlich klar, so wie er aussah mit dem … dem Gedärm herausgerissen. Und er hatte kein Gesicht mehr.«
    Weber stöhnt. »Entschuldigen Sie, ich muss …« Er dreht sich um, strebt zum Ausgang. Im nächsten Augenblick sackt er in sich zusammen und geht zu Boden.
    Lisa Nerz greift ihm unter die Achseln und fängt ihn ab. Die Bonobos schreien und kreischen, jagen die Gitter hoch und huschen durch die Wandöffnungen in die Schaugehege.
    »Kein Grund zur Besorgnis«, sagt Nerz. »Richard ist nur ein bissle empfindlich, wenn es um Leichen geht.«
    Beinahe hätte ich gelacht. Da liegt der Mann im feinen Zwirn auf dem Rücken, und seine burschikose Begleiterin hält ihm die Beine hoch, damit das Blut wieder zirkuliert. Es rührt mich. Er hat auf mich eigentlich wie ein Machtmensch gewirkt: markantes Kinn, ein asymmetrischer, etwas verschlagener Blick. Eine Mimik ohne Gefühle. So einen, hätte ich gedacht, behindern keine Empfindsamkeiten und Rücksichten auf dem Weg durchs Leben.
    Nach ein paar Sekunden ist er wieder da. Die Hyäne hilft ihm auf die Füße. Es herrscht eine gewisse körperliche Vertraulichkeit zwischen ihnen. Zudem nennen sie sich beim Vornamen. Das scheint mir nicht üblich für das rein professionelle Verhältnis einer Journalistin zu einem Oberstaatsanwalt.
    Die beiden wenden sich dem Ausgang zu, verschwinden um die Ecke. Wir hören die Gittertür ins Schloss fallen.
    »Mein Gott!«, sagt Heidrun zu mir und lacht. Doch sie sieht verstört aus. Sie hat ihre Geschichte nicht zu Ende erzählen können, nicht bis zu dem Moment, wo sie sich vielleicht daraus retten kann.
    Es ist der Alptraum des Pflegers. Seine Lieblinge haben jemanden getötet. Heidrun stand vor einem unlösbaren Problem. Sie musste zuerst Zete und Oicha wieder einsperren. Außerdem musste sie die Affen schleunigst von ihrer Beute trennen, auch wenn es nun schon keinen Sinn mehr hatte. Sie bei ihr lassen ging nicht, keine Sekunde länger. Sie hatten zwar die halbe Nacht mit ihr verbracht und sie angefressen, aber die Vorstellung, dass sie ihre Mahlzeit fortsetzen, während sie Gemüse im Schaugehege verstreut, erfüllte sie mit Grauen. Andererseits würde Kivu ihre Beute, die halbe Hand, höchstwahrscheinlich ins Schaugehege mitnehmen. Bis die Besucher kamen, würde es zwar noch eine Weile dauern, bis die Polizei kam und die Nachtgehege wieder zugänglich waren aber auch. Und wie sollte sie Kivu die halbe Hand später noch abnehmen?
    Heidrun schließt Zete und Oicha ins Tagesgehege, rennt hinaus, holt Gummibärchen und bietet Kivu einen Tausch an. Braves Mädchen, gib sie mir.
    Und dabei nicht auf das blutige Stück Mensch gucken. Was da klafft, ist Bauchfett, gelbliches Zeug mit roten Schlieren und bläulichem Schimmer. Eigentlich hätte sie längst die Polizei alarmieren, den Zoodirektor anrufen müssen. Stattdessen sitzt sie hier am Gitter fest und versucht Kivu dazu zu bewegen, dass sie Gummibärchen gegen eine halbe Hand tauscht, sie ihr durchs Gitter reicht. Die sie dann nehmen muss. Anfassen und beiseitelegen. Vor den Käfig auf den gekachelten Boden mit den Blutspritzern. Einfach so, eine halbe menschliche Hand ablegen wie ein Spielzeug. Noch nie hat sie sich so allein gefühlt.
    Ich nehme sie in den Arm.
    Von Till ist nicht viel ganz geblieben. Das steht fest. Die Bonobos hatten eine Nacht Zeit, ihn zu zerlegen und sich die Bäuche vollzuschlagen.
    »Dabei fressen sie doch gar kein Fleisch, unsere Bonobos«, schluchzt Heidrun. »Sie haben es noch nie gemocht, auch keine Insekten, keine Mehlwürmer, nichts von dem, was man heute Affen anbietet. Sie sind es nicht gewöhnt. Und auf einmal … wie die Kannibalen.«
    Wir finden Weber und Nerz auf der Bank im oberen Besucherraum vor den Gorillas. Kibo, der alte Silberrücken,

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