Die Affen von Cannstatt (German Edition)
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Haftbuch, Mittwoch, 22. Mai
Am schlimmsten ist der Gestank beim Scheißen, der die Zelle füllt. Des eigenen schämt man sich vielleicht, wenn eine Schluse eintritt, bevor man gelüftet hat, aber der einer Fremden ist invasiv, greift meine Ekelzentren an, hebt mir den Magen. Jo kann nichts dafür. Den ersten Tag hat sie gar nicht gekonnt. Sie gesteht mir, dass sie bei Koza fünf Tage nicht konnte und sich vom Anstaltsarzt ein Abführmittel geben lassen musste. Mit durchschlagendem Erfolg, sagt sie und lacht.
Ich gebe mir Mühe zu lächeln. Auch mir fällt es schwer, keine meiner Notdurften mehr alleine verrichten zu können. Wir machen den Fernseher an oder lassen ihn laufen, damit Augen und Ohren was zu tun haben, wenn die andere am Waschbecken steht und sich mit dem Lappen unter die Achseln, um die Brüste und zwischen die Beine fährt. Jo hat die Figur einer Fünfzigjährigen mit ordentlich Bauch und dicken Hinterbacken.
Haftbuch, Freitag, 24. Mai
Ich habe sieben Kinder geboren, erzählt sie beim Waschen, obwohl ich gar nicht hingucke. Da ist man nicht mehr schlank und rank.
Ich gucke sie an.
Sie redet weiter, während sie sich unter den Achseln abtrocknet, dann an Brüsten und Bauch, dann die Arschfalte, die Beine hinunter, die Füße, jeweils auf den Stuhl gestellt, Zehe für Zehe.
Vier davon tot, drei lebend, sagt sie. Und jetzt soll ich auf einmal eine Kindsmörderin sein. Das muss man sich mal vorstellen. Als ob ich nicht genug daran zu tragen hätte, dass ich vier Kinder verloren habe. Jetzt soll ich sie auch noch mit meinen eigenen Händen umgebracht haben.
Vier Babys? Vier?
Mir fährt es heiß unter die Haarwurzeln, gleich darauf wird mir kalt, ich kriege keine Luft mehr, oder vielmehr, ich habe so viel Luft in der Lunge, dass ich keine mehr einatmen kann. Vier tote Babys, und das fünfte …
Das fünfte bin ich.
Aber meine Mutter ist doch … Sie kann doch nicht plötzlich … Und wieso jetzt auf einmal … ich spinne jetzt wohl total.
Was ist?, fragt sie. Alles in Ordnung mit dir?
Jaja.
Sie kommt herbei, nackt, wie sie ist. Gewaltige Massen mütterlicher Sorge, kalte Augen, eine emotionslose Zuwendung.
Lass mich! Fass mich nicht an!
Ich muss sofort raus. Hier kann ich keine Sekunde länger bleiben. An die Tür zum Alarmknopf. Doch gelähmt bleibe ich sitzen. Was passiert denn, wenn ich die Ampel haue? Sie lassen mich nicht raus, nur weil ich kurz frische Luft brauche. Nur eine Runde im Hof. Ich werde sonst verrückt. Sie werden höchstens fragen, ob man einen Arzt bestellen soll. Dann säße ich diesem mitleidlosen Mann gegenüber, der uns immer zuerst für Simulantinnen hält. Der fragt dann: Möchten Sie, dass ich Ihnen eine Beruhigungsspritze gebe? Meine Kolleginnen sagen, er gibt sie immer in den Po. Hosen runterlassen heißt bei uns der Arztbesuch.
Ich muss mich selbst beruhigen. Irgendwie. Ich muss.
Haftbuch, Sonntag, 26. Mai
Sie erzählt pausenlos, ohne gefragt zu werden. Sie beschwört ihr bisheriges Leben mit einer Unmenge Details über Haus, Garten, Hund und Familie. So als wäre sie nur auf Urlaub und könnte es später wieder aufnehmen. Für den Ältesten, der in Konstanz Geologie studiert, am Wochenende die Wäsche waschen, für den Jüngsten mittags kochen. Er macht eine Lehre beim Vater. Ihr Dieter ist Schreinermeister. Sie ist in Amtzell zu Hause, irgendwo in Oberschwaben. Ich hoffe, sagt sie, als läge dies im Bereich des Möglichen, dass ich zum Geburtstag des Jungen wieder zu Hause bin. Er wird in drei Wochen achtzehn. Das muss doch richtig gefeiert werden.
Sie hat noch nicht begriffen, dass sie nicht mehr Mitglied des Gesangsvereins und der Wandergruppe ist, dass es keinen nachbarschaftlichen Tratsch vor dem Supermarkt mehr gibt, keinen Wochenmarkt, keine Freunde, keine Geburtstagseinladungen mehr, und dass ihr Mann sie verlassen wird.
Sie erzählt mir, was sie ihrem Dieter am nächsten Besuchstag alles sagen muss. Freut sich auf den Tag hin. Meine Arbeitsdienste sind Flucht und Urlaub aus dem Alptraum.
Haftbuch, 27. Mai
Jo ist auch so eine, die nur im Kino geraucht hat und nicht versteht, warum sie hier ist. Sie scheint zu glauben, was sie sagt. Wenn ich erkläre, ich hätte nichts mit der Tat zu tun, wegen der ich verhaftet wurde, klingt es vermutlich genauso. Darf ich die anderen für Leugnerinnen halten, wenn ich mich selbst ausnehme?
Oder belüge ich mich selbst? Womöglich gibt es angesichts unauslöschlicher Schuld einen Totstellreflex der
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