Die Affen von Cannstatt (German Edition)
mich eine Beamtin von den Putzeimern geholt und zu den Besuchsräumen geführt.
Sie lässt mich gleich in den Raum eintreten und bleibt selber draußen. Nur mein Verteidiger kann mich an jedem Tag besuchen. Es ist aber nicht Onkel Gerald, sondern dieser gut gekleidete Staatsanwalt, Dr. Richard Weber. Hellbrauner Anzug mit Weste, Krawatte und Manschettenknöpfen. Er riecht dezent nach Duschpflege und Rasierwasser.
Er bittet mich höflich, Platz zu nehmen, setzt sich erst, als ich sitze, und blickt mich wach und interessiert an. Meine deprivierten Sinne, Herz und Hirn weiten sich.
Sie fragen sich vermutlich, eröffnet er das Gespräch, warum ich hier bin.
Nein, ich genieße einfach.
In der Tat, sagt er mit musikalischer Stimme, ist es nicht üblich, dass ein nicht ermittelnder Staatsanwalt einer Angeschuldigten einen Besuch abstattet. Er schaut mich mit seinen asymmetrischen, etwas verschlagenen Augen an und beugt sich leicht vor, als müsse er ausschließen, dass jemand mithört. Ich habe weder Ihren Verteidiger noch Staatsanwältin Meisner im Vorfeld informiert. Und ich habe auch nicht vor, es im Nachhinein zu tun. Betrachten Sie bitte diesen Besuch als rein privaten.
Niemand ist dein Freund, sage ich in meinem Kopf auf, auch wenn er noch so verständnisvoll tut. Aber ich finde, ich habe ein Recht auf Dummheit. Man erwirbt es sich, wenn man monatelang isoliert von vernünftigen Sozialkontakten zubringen muss.
Ich gebe Ihnen mein Wort, fährt Weber fort, dass nichts von dem, was wir hier besprechen, diesen Raum verlässt. Jedenfalls nicht mit mir.
Am liebsten hätte ich gelacht wie über einen gemütlichen gemeinsamen Scherz. Erst jetzt merke ich, was ich seit meiner Verhaftung vermisse: Diskrektion. Ebenjene respektvolle Distanz im Umgang miteinander, die mir die Wahlfreiheit lässt, zu entscheiden, wie viel Nähe ich zulasse, was ich preisgebe und was nicht, weil es niemanden etwas angeht. Nein, ich sehne mich nicht nach Nähe und Intimität, schon lange nicht mehr, sondern nach der lockeren Geborgenheit unter Arbeitskollegen, auf einer Geburtstagsparty oder unter Konzertbesuchern. (Meine Beziehung zu Till ist in Wahrheit zerbrochen, weil ich ihm nie das letzte Vertrauen entgegenbringen konnte, weil ich ihm nie gesagt habe, dass ich die Tochter einer Kindsmörderin bin. Wir sind uns fremd geblieben.)
Okay, sage ich. Und was hätten wir zu besprechen?
Weber greift sich in die Jacke. Er zieht eine Zigarettenschachtel hervor und bietet mir eine an.
In den Besuchszimmern ist das Rauchen verboten, sage ich.
Es ist ihm egal. Als Beamter steht er im Rang weit über den Schließerinnen. Die werden ihn nicht ermahnen. Ich nehme eine Zigarette. Er gibt mir Feuer. Es ist die fünfte Zigarette in meinem Leben. Mittlerweile kann ich rauchen, ohne beim ersten Zug zu husten. Weber steht auf, öffnet das Fenster und setzt sich wieder.
Ich habe seinerzeit befürwortet, dass Meisner Ihnen einen Laptop genehmigt, beginnt er. Nach meinem Dafürhalten sprach auch nichts dagegen, Ihnen den Computer zurückzugeben, nachdem man ihn beschlagnahmt hatte.
Warum eigentlich?
Webers Miene deutet an, dass er seine Kollegen für harmlose Trottel hält. Weil, antwortet er, eine eifrige oder neugierige Beamtin beim Blick auf das, was Sie gerade schrieben, entdeckt zu haben meinte, dass Sie den Mord an Ihrem ehemaligen Professor gestanden haben. Sie hat es der Anstaltsleiterin gemeldet, und die hat umgehend die Staatsanwaltschaft informiert. Um den Sachverhalt zu klären, hat Meisner den Computer kurzerhand beschlagnahmen lassen. Eine zweifelhafte Maßnahme, die im Nachhinein nur dadurch zu rechtfertigen war, dass man Ihnen und Ihrem Verteidiger erklärte, es habe Verdacht bestanden, dass Sie sicherheitsrelevante Dinge niedergeschrieben hätten.
Habe ich aber nicht.
Nein, haben Sie nicht. Allerdings habe ich auf diese Weise Kenntnis von Ihrer schriftlichen Verteidigung – wie Sie das nennen – erlangt. Und Lisa hat nun …
Sie hat mich getäuscht und verraten, unterbreche ich ihn. Mit Verlaub, Herr Dr. Weber, auch wenn sie Ihre Bekannte ist …
Freundin, unterbricht er mich seinerseits. Ich ziehe die unmissverständliche Bezeichnung vor. Hinter meinem Rücken reden die Kollegen auch gern von Entgleisung, falls Ihnen das der sympathischere Begriff ist. Ich bezeichne sie am liebsten als meine Lebensgefährtin. Ich fühle mich zwar nicht verantwortlich für das, was sie tut, aber ich vertraue ihr. In Ihrem Fall, Frau Feh, konnte man
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