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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Erinnerung. Und wenn man vier Babys getötet hat, dann erträgt man das nur, indem man glaubt, sie seien tot geboren worden.
Freitag, 31. Mai
    Es regnet und regnet. Ich will raus, Wasser schmecken, Luft holen, aber der Hofgang ist ausgefallen. Die Amseln singen. Auf der Hütte Katastrophe. Dieter ist nicht gekommen. Als ich von der Arbeit zurückkehre, ist Jo in Tränen aufgelöst. Sie versteht die Welt nicht mehr. Im Grunde weiß sie, warum er nicht gekommen ist, lenkt sich aber noch mal mit einem Angstanfall ab. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen. Und sie sagen es mir hier nicht. Ich muss telefonieren. Das können sie mir doch nicht verbieten. Ich muss wissen, was los ist.
    Sie drückt den Alarm und streitet sich mit der Schließerin herum, die sie nicht telefonieren lassen will. Sie kann ihr nur anbieten, dem Sozialdienst Bescheid zu geben, der sich morgen darum kümmern wird. Aber bis morgen kann ich nicht warten, schreit Jo. Das halte ich nicht aus.
    Man hält alles aus im Knast, es geht ja nicht anders. Ich setze mich zu ihr aufs Bett, lege den Arm um sie und fühle ihre zitternden Muskeln. Sie schafft es nicht, sich eine Zigarette zu drehen, der Tabak krümelt, das Papier schlägt Falten. Ich mache es für sie. Sie zündet sich die Zigarette mit wütend bebenden Händen an. Bläst den Rauch in die Zelle, schaut ihm finster hinterher.
    Nein, sagt sie, ich habe Dieter nie was erzählt von den anderen Kindern. Wozu auch? Olle Kamellen.
    Sie haben sich in Spanien kennengelernt, dort geheiratet. Erst als der Älteste in die Schule kommen sollte, sind sie zurück nach Deutschland. Dieter hat die Schreinerei seines Vaters übernommen. Sie waren glücklich. Nun ja, zufrieden. Probleme gibt es immer. Dieter war nicht zu Hause, als die Polizei kam, er war auf einer Baustelle in Ravensburg. Morgens um sechs sind sie gekommen, mit einem roten Wisch. Sie hat es erst gar nicht kapiert. Verhaftet? Aber wieso denn? Ich habe doch gar nichts getan. Nicht mal einen Lippenstift im Laden hat sie je mitgehen lassen. Niemals. Sie soll ihre Kinder umgebracht haben? Mein Gott, zwanzig Jahre liegt das zurück. Und jetzt kommen die damit. Sie hat gedacht, das klärt sich ja schnell auf. Am Nachmittag ist sie wieder zu Hause. Sie hat niemandem Bescheid gegeben, nur dem Sohn einen Zettel auf den Küchentisch gelegt.
    Und jetzt sitze ich hier schon seit … seit drei Wochen!
    Noch keine Zeit, denke ich.
    Dieter vertraut mir, beschwört sie ihre alten Gewissheiten. Er kennt mich doch. Ich könnte keinem Kind was zuleide tun. Sie bläst den Rauch in die Zelle.
    Im ersten Schock versichern sie einem immer, dass sie dir glauben, denke ich. Nachher kommen sie ins Grübeln. Meine Pflegemutter Isabel war vor Ostern das letzte Mal hier, mein Pflegevater noch nie, Lukas auch nicht. Der letzte Brief, in dem Isabel sich für ihr Wegbleiben entschuldigte, klang abgekühlt. Sie hätten viel zu tun im Geschäft. Die Weltwirtschaftskrise. Gustav hat eine kleine Operation überstanden, Leistenbruch. Er darf nichts mehr heben. Lukas ist mit Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt.
    Auch Filiz schreibt immer seltener. Ich verstehe das. Meine Antworten sind beunruhigend oder inhaltsleer. Besucht hat sie mich nie. Vermutlich will sie meiner Pflegemutter die Besuchszeiten nicht wegnehmen. Von Heidrun habe ich nie etwas gehört. Wenn ich an sie denke, schäme ich mich. Sie glaubt am Ende wirklich, ich hätte ihre geliebten Affen missbraucht, um meinen Exlover zu töten. Dass einer meiner ehemaligen Kollegen sich rührt, habe ich nicht erwartet. Auch wenn ich Arne durchaus zugetraut hätte, dass er sich nicht anstecken lässt vom Kesseltreiben. Das einzige Schreiben aus meiner Firma kam von der Personalabteilung. Es war die Kündigung.
Samstag, 1. Juni
    Es schüttet. Wieder kein Hofgang. Überall Hochwasser. Der Neckar schäumt, sehe ich in den Nachrichten. Die Flüsse steigen. Passau erwartet ein Jahrhunderthochwasser. Menschen bauen Dämme, ertrinken, verlieren alles. Ich bin Beobachterin zweiter Ordnung, wir sind es fast immer, ich wäre es auch, wenn ich frei wäre, aber ich könnte es ändern, könnte mich auf die Wilhelmsbrücke stellen, das Rauschen hören, den Neckar riechen, die Bedrohung fühlen. Weil der Mensch gern in den eigenen Sinnen abspeichert, was außerordentlich und gefährlich ist. Am meisten fehlen mir die Gerüche.
Haftbuch, Montag, 3. Juni
    Etwas Seltsames ist passiert. Zu einer völlig unerwarteten Stunde, heute Vormittag halb zehn, hat

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