Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Hand hinein.
Ich möchte nichts tun, nichts entscheiden, nicht aufpassen, ich möchte den Überblick verlieren, einmal in meinem Leben nicht an die Folgen denken, keine Zukunft und Vergangenheit haben, nichts zurückhalten, kein Geheimnis hüten. Hinterm Vorhang von Schnee, der draußen fällt, wie Adam und Eva vor der Entdeckung der Scham sein.
Sie hat es nicht eilig. Ihre Ruhe steht im Gegensatz zu meiner Gier. Was die Gier steigert. Sie zieht mich halb aus, füllt ihre Hände mit meinen Brüsten, führt mich ins Schlafzimmer, legt mich aufs Bett, entkleidet mich. Im Unterschied zum Beischlaf mit Till ist keine Liebe dabei. Keine Kommunikation, die hinterher, wenn man sich erinnert, peinlich werden könnte. Sie holt sich ihrs und ich mir meins. Danach werden wir uns nicht wiedersehen.
Kurz vor zehn geht sie, den Hund erlösen, wie sie sagt. Ihren Dackel, der Cipión heißt. Er wartet in ihrer Wohnung – wo auch immer die ist – darauf, dass sie mit ihm Gassi geht.
Im Internet schaue ich nach, woher der Name kommt. Cipión und Berganza, so heißen die beiden Hunde, die Cervantes in einer Novelle miteinander sprechen lässt. Der eine, Berganza, ein Bullenbeißer und Diener vieler Herren, der andere, Cipión, ein Naiv-Ironischer. Es ist das Letzte, was ich im Internet nachschaue, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ich mir ein Leben ohne den schnellen und freien Zugang zum Wissen gar nicht vorstellen kann.
Schon bei der Zigarette auf dem Balkon muss Lisa per SMS an Weber die Nachricht geschickt haben, dass ich Tills Mörderin bin. Er hat dann seine Kollegin Meisner angerufen, damit sie den Haftbefehl beantragt. Anders kann ich mir nicht erklären, warum sie gleich am anderen Morgen auf der Matte standen.
//Haftbuch, Samstag, 15. Juni
Und nun habe ich Lisa doch noch mal gesehen. Weber hat sie zu unserem vereinbarten dritten Termin mitgebracht. Sie sieht lächerlich seriös aus: grauer Rock, graue Weste, rosafarbenes T-Shirt, rosafarbene Pumps. Er hat sie am Tor als seine Gehilfin ausgegeben, und sie haben ihm geglaubt, nur weil er Oberstaatsanwalt ist. Jede Regel kann gebrochen werden, das weiß ich inzwischen. Auch im Knast. Es muss nur eine Macht dahinter stehen, die Angst erzeugt.
Ich schiebe wie beim letzten Mal meinen USB-Minispeicher über die Tischplatte und bekomme von Weber einen neuen.
Auf dem Tisch liegt ein schwarzes Buch, das Lisa umdreht, so dass ich den Titel sehen kann. Weiße Schrift: Le Bon. Rote Schrift: Psychologie der Massen. Alles in Großbuchstaben. Lisa schlägt es auf. Ins innere Blatt hat jemand – ich denke, ein Mädchen – eine Telefonnummer geschrieben und ein Herz darum gemalt.
Lisa grinst. Tja, die Bücher und Richard, das sind gute Freunde. Er hat letzte Woche die Antiquariate abgeklappert, online, per Telefon und zu Fuß. Ist es das?
Ja, das ist es. Das ist das Buch, das Professor Schmaleisen damals gekauft und mir gezeigt hat, kurz bevor er im Neckar unterging. Ein Punkt für uns.
Lisa gibt es Richard, der es in eine Aktentasche steckt. Jetzt muss, sagt sie, der Antiquar nur noch gefoltert, hypnotisiert oder unter Drogen gesetzt werden, damit er sich erinnert, von wem er das Buch erworben hat.
Und dann … dann wissen wir, wer Schmaleisen umgebracht hat?
Lisa nickt.
Weber widerspricht: Nein, keineswegs.
Schon recht, du Bedenkenträger, erwidert sie. Womöglich hat sich ja auch nur ein Obdachloser von den Neckarbrücken der Weihnachtseinkäufe von Schmaleisen bemächtigt, die irgendwo am Neckardamm zurückgeblieben waren. Und der Obdachlose hat natürlich sonst auch gar nichts gesehen und ist womöglich heute auch gar nicht mehr am Leben.
Ich werde sowieso nicht wegen Schmaleisen angeklagt, sage ich.
Komischerweise sagen beide nichts dazu. Plötzlich kapiere ich. Falls sich der Antiquar erinnert, das Buch von einer jungen blonden Frau gekauft zu haben, wird man die Anklage gegen mich um ein Tötungsdelikt an Schmaleisen erweitern.
Mir pocht das Herz. Offenbar lerne ich nicht, dass die beiden nicht auf meiner Seite stehen. Sondern ganz woanders. Vielleicht auf der Seite einer Fiktion von Gerechtigkeit oder auch nur Selbstgerechtigkeit. Es schmerzt Lisa, einen Fehler gemacht zu haben. Und wenn man einen Fehler gemacht hat, kann man auf zwei Weisen reagieren: Man versucht ihn wiedergutzumachen, oder man setzt alles daran, zu beweisen, dass man keinen begangen hat.
Ich erwäge aufzustehen und mich zurückschließen zu lassen. Aber ich besinne mich. Willst
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