Die Affen von Cannstatt (German Edition)
viel fotografiert. Aber vielleicht bin ich damit auf einem Klassenfoto drauf. Onkel Gerald notiert sich Namen meiner Mitschüler. Von vielen kenne ich die Nachnamen nicht mehr. Und wer weiß, wo es die alle hin verschlagen hat. Eine schöne Aufgabe für den Kanzleigehilfen. Ich schlage vor, auch über Facebook eine Suchanfrage zu starten. Ich habe viele ehemalige Mitschüler unter meinen Freunden. Onkel Gerald notiert sich meine Zugangsdaten. Noch eine schöne Aufgabe für den jungen Kollegen. Er selber hat es nicht so mit Facebook.
Ich bin in Hochstimmung auf der Rückfahrt im fensterlosen Wagen. Endlich ein Ansatzpunkt. Wenn Till meine alte Jacke getragen hat, dann erklärt sich auch, wie mein gebrauchtes Papiertaschentuch ans Tor kam. Es steckte seit Jahren in der Tasche und ist in jener Nacht herausgefallen.
Ich kann nicht schlafen. Ich suche nach Namen aus der Tübinger Zeit. Vielleicht hat mich dort jemand in der Lederjacke fotografiert. Ich sehe den Küchentisch unserer WG wieder vor mir, den Zettel mit den Symbolen der Bereiche im Kühlschrank: Smiley für vegan und containert, neutrales Gesicht für vegan und gekauft und böses Gesicht für alles andere. Meta konnte sich furchtbar aufregen, wenn die Paprikaschoten mit Käse in Berührung kamen. Nicht mehr koscher.
Ich muss an Lisa herankommen. Ich sehe sie jeden Verhandlungstag im Gerichtssaal. Immer ganz hinten. Keine Chance, ihr etwas zuzurufen. Ohnehin dürfte ich es nicht. Sie wird also nicht mitkriegen, dass ich in Facebook auf meiner Seite nach alten Fotos mit mir in der Lederjacke suchen lasse, denn ich habe damals ihre Freundschaftsanfrage nicht bestätigt.
Haftbuch, 19. Juli
Heute der Obduktionsbericht der Rechtsmedizinerin. Mit Fotos. Offensichtlich will sie die Grausamkeit des Verbrechens vorführen. Onkel Gerald protestiert und stellt Anträge. Ich kenne das Gutachten. Ich habe es in meiner Akte gelesen. Aber wenn eine Frau Professor es mit fester Stimme vorträgt, kann man dem Tod nicht mehr ausweichen. Das ist die Macht der Mündlichkeit in der Verhandlung. Man riecht Blut. Im Zuschauerraum ist es still wie in einem Horrorfilm.
Till ist zwischen ein Uhr und fünf Uhr morgens gestorben. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schätzungsweise 1,3 Promille Alkohol im Blut. Weiß ich, höre ich noch mal. Die Weihnachtsfeier. Aber er hatte auch Tilidin im Blut, ein starkes Schmerzmittel. Die Ärztin redet von einer Arthrose im Knie. Aber dafür war das Schmerzmittel eigentlich zu stark. Und Tills Augen waren von Capsaicin gereizt, wie es in Pfefferspray enthalten ist.
Ob Till noch handlungsfähig gewesen ist, will der Richter von der Rechtsmedizinerin wissen. Das war er, wenn man davon ausgeht, dass Deutschbein regelmäßig Alkohol getrunken hat. Vermutlich hat er sich sogar relativ klar und stark gefühlt. Das Capsaicin dürfte etwa eine Viertelstunde lang oder auch kürzer seine Sehfähigkeit eingeschränkt haben. Hätten ihm die Affen nicht das Gedärm herausgerissen, wäre Till an den Folgen eines Hirntraumas gestorben, denn er ist gegen einen Schlaftisch geknallt und hatte eine Hirnblutung. So ein Tod dauert jedoch Stunden. Er hätte die Hirnverletzung überleben können, hätte man ihn rechtzeitig herausgeholt und ins Krankenhaus gebracht. Nach Auffassung der Ärztin hat er eine gute Weile reglos und wie leblos im Käfig gelegen, bevor Kivu ihm die Hand abgebissen hat und die anderen ihm das Gedärm herausgerissen haben. Gefressen haben sie nicht. Auch Kivu nicht. Eher gespielt.
Tills Mutter verlässt weinend den Gerichtssaal.
Abends im Fernsehen heißt es: Die Angeklagte verfolgte die Aussage der Ärztin mit unbewegter Miene.
Die Frage, die Lisa, Weber und ich an meinem letzten Tag in Freiheit diskutiert haben, stellt sich nicht mehr. Nämlich welche der Bonobofrauen einem Mann, der sich wehrte, tödliche Verletzungen beigebracht hat. Sie haben ihn für tot gehalten. Es ist ihnen ja auch verziehen worden. Sie sind gemeinsam ins neue Menschenaffenhaus umgezogen.
24. Juli
Das Gericht hat mit der Vernehmung der Zeugen begonnen. Es sind Dutzende, die uns bevorstehen, und nur noch drei Termine bis zu den Sommerferien.
Zunächst alle, die bei dem Nikolausessen im Trollinger dabei waren. Ich sehe die gesamte Führungsriege von Peofis in den Zeugenstand treten, sogar den GF, der nichts Relevantes zu sagen hat und gleich wieder entlassen wird. Er schaut mich an. Die anderen versuchen es zu vermeiden, nur manchmal sind ihre Augen vorwitziger als die
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