Die Affen von Cannstatt (German Edition)
ist es ein Fluch.
Ich heule. Dekompensation.
Haftbuch, Donnerstag, 1. August
Das psychologische Gutachten hat mich vernichtet. Damit gehen wir in die Sommerpause, die draußen in den Urlaub, ich in wochenlange Klausur. Wie wenig doch genügt, um jemanden zu verurteilen: nur Worte und eine in sich schlüssige Fiktion.
Mit mir hat die Psychologin nie gesprochen. Onkel Gerald hatte mir davon abgeraten. Aber sie saß die ganze Zeit im Gerichtssaal – eine ältere Frau mit langen grauen Haaren in weiten Baumwollsachen – und hat mich beobachtet. Das wird mir erst jetzt klar. Ich hatte sie für eine Journalistin gehalten, weil sie sich Notizen machte.
Gesagt habe ich jedoch nichts, was sie hätte aufschreiben können. Vielleicht hat sie meine Mimik protokolliert. Rümpft die Nase, lächelt arrogant vor sich hin, zeigt keine Signale des Mitgefühls. Interpretation von Grimassen und Körpersprache, wie ich sie einst bei den Bonobos angestellt habe. Mara freut sich. Alma ist genervt. Heri himmelt Männer an.
Mit leiser Stimme bezeichnet sie meine tagebuchähnlichen Äußerungen, die ihr die Staatsanwaltschaft zugänglich gemacht hat, als Versuch einer Selbstentledigung von Verantwortung. Ich hätte das Trauma, Tochter einer Kindsmörderin zu sein, nie bewältigt. Auch nicht bewältigen wollen. Ich hätte keinen Versuch unternommen, den von mir empfundenen Makel zu relativieren. Hätte mich reingesteigert in ein Anderssein und diffuse Schuld- und Schamgefühle. Weder zu meinen Pflegeeltern, die ich niemals Mama und Papa genannt habe, noch zu deren Sohn hätte ich eine vertrauensvolle Bindung aufgebaut. Sie befindet: Ein Wille, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, ist nicht erkennbar. Wiederholt müssen allgemein ins Raster von Feminismus und Patriarchat eingeordnete Umstände für mein Scheitern herhalten. Wo das nicht gelingt, stilisiere ich das Verhalten beispielsweise meines Professors als persönlichen Vernichtungsfeldzug, der mir als Begründung ausreicht, das Studium abzubrechen und die Liebesbeziehung zu Till Deutschbein zu beenden.
Mein nach außen kühles und kontrolliertes Verhalten macht es, sagt sie, für mich selbst und andere schwer erkennbar, dass in meinem Unterbewussten lebensbestimmende Gefühle wie Angst, Kränkung, Hass und der Wunsch nach Rache toben. Deren Ausbruch verstehe ich regelmäßig nicht und reagiere deshalb im Anschluss mit ausgeprägten Schamgefühlen, die durch die Scham, Tochter einer vermeintlichen Kindsmörderin zu sein, eine immer größere und quälendere Dimension bekommen haben.
Das sagt sie öffentlich. Alle können es hören. Ab jetzt gelte ich als krank, als pervers, als verrückt. So wird es in den Zeitungen stehen.
Um mich vom Schatten meiner Mutter zu befreien, behauptet sie, habe ich mein Heil immer wieder in radikalen Schnitten gesucht, die meine Umgebung nicht nachvollziehen konnte. So mein Auszug von zu Hause mit achtzehn. Und mein Studienfach Soziologie, eine Überraschung für meine Pflegeeltern, die dachten, ich würde BWL studieren und das Geschäft übernehmen. Dann der Abbruch all meiner Verbindungen zu Tübingen. Daraufhin schnell wechselnde Jobs. Freundschaftliche Beziehungen zu anderen Menschen habe ich, sagt sie, nicht aufgebaut.
Und Filiz?, frage ich mich. Was ist sie, wenn nicht Freundin? Und was soll das mit den radikalen Schnitten? Was für eine absonderliche Idee. Aber sie braucht sie, um mich zur Mörderin zu deklarieren. Denn, erklärt sie leise, aber öffentlich hörbar, das Angebot von Till Deutschbein, mir einen Job zu verschaffen, ist für mich schicksalhaft gewesen. Es hat in mir das Gefühl ausgelöst, ihm genauso wenig wie dem Schatten meiner Mutter entkommen zu können.
Dummes Zeug. Warum stoppt sie niemand?
Die Arbeit bei Peofis habe ich, sagt sie, als Gefangenschaft in betrieblichen Regeln erlebt, für deren Durchsetzung in meiner Vorstellung Till allein verantwortlich war. Nach dem Fund eines Speichermediums mit den Notizen einer schwer depressiven Kollegin habe ich ihn zum teuflischen Bösewicht stilisiert. Ein radikaler Schnitt in Form einer Kündigung war mir hier jedoch nicht möglich, behauptet sie, vielmehr habe ich mein Heil darin gesehen, Manuela zu rächen, stellvertretend für mich und alle anderen Frauen. Das Matriarchat tötet das Patriarchat.
Onkel Gerald greift laut protestierend ein. Die Gutachterin gehe von der keineswegs bewiesenen Voraussetzung aus, dass ich die mir zur Last gelegte Tat begangen hätte.
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