Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Selbstkontrolle. Das Gericht will herausfinden, wann genau Till die Feier im Trollinger verlassen hat. So gegen halb zwölf. Da war nämlich allgemeiner Aufbruch.
Frau Dr. Ursula Seitz behauptet dann auf einmal steif und fest, sie habe mich gegen halb zwölf gesehen, und zwar mit Till auf dem Weg zu dessen Auto, wie sie angenommen habe. Das stand so nicht im Vernehmungsprotokoll. Der Richter fragt deshalb nach. Sie beteuert, sie erinnere sich genau, wie sie gedacht habe, hoffentlich fährt nicht er, Till, sondern ich, so viel, wie er getankt hatte. Ja, natürlich hat sie mich als Mitarbeiterin ihres Betriebs erkannt, sagt sie.
Sie lügt, wispere ich Onkel Gerald zu. Warum tut sie das? Ich habe ihr doch gar nichts getan.
Er brummt. So was kommt bei Zeugen immer wieder vor. Dr. Seitz hat mein Bild als Täterin inzwischen so oft in der Zeitung und im Fernsehen gesehen, dass es ihre Erinnerung plattmacht. Wen auch immer sie am Freitagabend tatsächlich mit Till am Feuersee gesehen hat, es ist nicht mehr herauszufinden. Denn inzwischen haben sich mein Bild und Name komplett über das vage Bild geschoben, das sie anfangs von der Person noch gehabt hat.
Er fragt alle Peofis-Zeugen, was Till an jenem Abend angehabt hat. Sie sagen: einen Mantel. Keiner sagt: eine Lederjacke.
Onkel Gerald stellt Antrag, die Polizei zu beauftragen, Zeugen zu suchen und zu finden, die mich bis spät in die Nacht in der Roten Kapelle gesehen haben. Er erhält eine Rüge, weil er damit erst jetzt kommt. Die Ermittlungsakten lägen ihm seit Monaten vor. Wenn bis Prozessende keine entsprechenden Zeugen vorgeführt werden, wird er das in die Begründung für den Revisionsantrag schreiben. Zumindest verstehe ich das so.
Haftbuch, Donnerstag, 25. Juli
Und heute ist allen im Saal klar geworden, dass der Trollinger und die Rote Kapelle beide am Feuersee liegen, das eine auf der einen, das andere auf der anderen Seite, nur hundert Meter voneinander entfernt. Denn meine Schulfreundin Filiz war im Zeugenstand. Sie wird ermahnt, die Wahrheit zu sagen, weil sie im Anschluss vereidigt werden könnte. Ob sie will oder nicht, sie muss bezeugen, dass ich gegen zweiundzwanzig Uhr in der Roten Kapelle aufgekreuzt bin. Sie muss zugeben, dass sie früher gegangen ist als ich. Den Mann, mit dem ich bis zwei Uhr nachts getanzt und geredet habe, hat die Polizei nicht aufgetrieben. Auch Onkel Gerald nicht. Lisa Nerz offenbar ebenfalls nicht. Wer weiß, ob er sich an mich erinnert hätte.
Nachmittags geht es um meine Tübinger Zeit, mein Verhältnis zu Till. Ich sehe Meta wieder. Sie trägt immer noch vegane Kleidung. Sie erzählt, dass Till und ich in Tübingen ein Paar waren. Ich hätte mich dann von ihm getrennt. Warum, weiß sie nicht. Für Till, sagt sie, war es eine schwere Zeit.
Tills Mutter will schon immer der Meinung gewesen sein, dass ich Till nur ausgenutzt und ihm nicht gut getan habe. Draußen Backofenglut.
Samstag, 27. Juli
Ein Gerichtsverfahren ist wie eine Krankheit. Ich kann an nichts anderes denken. Wenn keine Verhandlung ist, wie heute, muss ich mich erholen, bin rekonvaleszent. Ich liege auf dem Bett, starre in den Fernseher, bin wie in Trance, benebelt. In meinem Kopf tobt es.
Dienstag, 30. Juli
Das Gutachten eines Biologen und Affenforschers kommt zu dem Schluss, dass zu erwarten war, dass Bonobos ihr Revier ebenso wehrhaft wie Schimpansen verteidigen. Der Gutachter zitiert sogar aus meiner Bonobostudie, wenngleich ohne mich als Autorin zu nennen. Offenbar aus Unkenntnis. Sie lasse bei aller gebotenen Skepsis die Vermutung zu, dass Bonobos absichtsvoll töten können. Auch wenn sie es ja, laut rechtsmedizinischem Gutachten, in diesem Fall gar nicht getan haben.
Doch an dieser Stelle entscheidet sich, dass ich – wenn nicht ein Wunder geschieht – wegen heimtückischen Mordes verurteilt werde. Dem Gericht ist ja bekannt, dass ich diese Studie erstellt habe. Nur der Gutachter hat es nicht gewusst. Er reißt ziemlich erstaunt die Augen auf. Er hat über sie in einer soziologischen Fachzeitschrift aus dem Jahr 2008 in einem Aufsatz von Prof. Dr. Schmaleisen gelesen.
Haftbuch, Mittwoch, 31. Juli
Die Facebooksuche nach einem Jugendfoto von mir in der Lederjacke hat keinen Erfolg. Onkel Geralds junger Kanzleikollege hat außerdem etliche meiner ehemaligen Klassenkameraden angerufen, sofern er sie finden konnte. Aber niemand besitzt ein Foto von mir. Ich habe mich nie gern fotografieren lassen. Nicht erkannt werden, unsichtbar bleiben. Jetzt
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