Die Ahnen von Avalon
Geomantie - vertieft, und mit der Zeit war eine gewisse Entfremdung eingetreten. Nun hatte gemeinsames Leid sie einander wieder näher gebracht, denn bei der überstürzten Flucht von Ahtarrath waren Anchas Frau und seine Kinder ertrunken. Er selbst hatte sich, halb wahnsinnig vor Kummer, an eine Spiere geklammert. Die Königssmaragd hatte ihn aufgefischt, als sie nach Überlebenden gesucht hatte.
Manchmal beneidete Micail seinen Vetter, der weiterleben konnte, ohne sich mit Hoffnungen zu martern, die immer wieder enttäuscht wurden. Doch wenn er den stummen Schmerz in Anchas Augen sah, begriff er, dass auch die schwächste Hoffnung immer noch besser war als eine Gewissheit, an der man verzweifelte.
Hätte er Tiriki in den Wellen versinken sehen, er hätte es nicht überlebt.
Eines Nachmittags erschien Ardral unangemeldet zu einem Besuch. Er brachte einen Krug Honigwein aus Forrelaros Keller und eine Platte mit saftigem Schweinebraten mit, den Tjalans Leibkoch eigenhändig zubereitet hatte. Es war ein warmer, aber eher bedeckter Tag. Sie zogen sich einen niedrigen Tisch und zwei Bänke vor die offene Balkontür und ließen es sich schmecken.
Als der erste Hunger gestillt war, wandte sich das Gespräch den Plänen für den neuen Tempel zu.
»Ihr solltet wieder öfter an den Ratssitzungen teilnehmen, mein Junge. Haladris und Mahadalku spielen sich unglaublich geschickt die Bälle zu, und Ihr steht als Einziger so hoch im Rang, dass Ihr sie in die Schranken weisen könntet«, mahnte Ardral. »Wenn sie sich durchsetzen, wird der neue Tempel sämtliche Schwächen des alten getreulich übernehmen.«
»Müssen wir uns wirklich jetzt schon den Kopf darüber zerbrechen, wer an der Spitze des neuen Tempels stehen soll? Ohne Tiriki und Chedan können wir doch ohnehin keine Entscheidung treffen.«
»Und in welchem Leben sollen sie sich wohl in die Debatte einschalten?«, fragte Ardral trocken. Micail fuhr erschrocken in die Höhe. »Ach, mein Junge… es tut mir Leid«, sagte der Meister sanft. »Aber Ihr habt alles beobachtet, was seit unserer Ankunft in diese Bucht gekommen ist - jedes Schiff, jedes Boot, jeden Seehund. Inzwischen sind drei Neumonde vorübergegangen, und es gibt immer noch kein Lebenszeichen, keine Nachricht. Irgendwann kommt der Augenblick…«
»Ich weiß!« Micail schüttelte den Kopf. »Ich weiß, ich bin töricht und verstockt. Aber dennoch - kann das wirklich alles sein, was von uns bleibt? Ich will es nicht glauben, es wäre ein zu übler Streich. Ich will nicht glauben, dass meine Liebste… dass die Besten von uns allen tot sein sollen - dass nur eine Hand voll unbedeutender Priester, eine Schar hochmütiger Adeliger, ein paar Schreiber, Zöglinge und allzu viele Soldaten übrig geblieben sind! Und viele von ihnen sind zudem fast noch Kinder.«
»Hört zu, Micail.« Ardrals Stimme klang weich, fast beschwichtigend. »Es ist nicht falsch, an seiner Hoffnung festzuhalten. Reio-ta hat oft gesagt, Ihr beiden wärt wie ein Herz und eine Seele - und er verstand etwas von diesen Dingen. Wenn Ihr glaubt, dass sie lebt, dann will ich Euch davon nicht abbringen. Aber vergesst nicht: Alles kommt so, wie es kommen soll. Ihr habt mit Tiriki so lange Seite an Seite gewirkt; vielleicht müssen sich Eure Wege nun für eine Weile trennen.« Der Meister hielt inne und wählte seine Worte mit Bedacht. »Doch wenn es darum geht, einen würdigen Tempel zu errichten, dann bedenkt: Man wird uns dereinst nicht danach fragen, wie viele wir waren oder welche Gaben wir besaßen. Es bedarf nur eines einzigen Gerechten, um den Weg des Lichtes zu bewahren.«
»So sagt man«, gab Micail zurück, »aber um das Priestertum und sein Wissen zu bewahren, ist dieser eine nicht genug, und Tatsache bleibt, dass von den Zwölf Erwählten nur vier gerettet wurden. Vier .«
Ardral nickte. »Noch einen Schluck?«, fragte er, und Micail seufzte und ließ sich nachschenken. Wieder rollte der im Holzfass gereifte Wein aus dem Alten Land über seine Zunge, und er spürte sein zartes, leicht herbes Aroma.
»Wir mussten vieles zurücklassen, gewiss«, sagte Ardral leise. »Und ich weiß natürlich nicht, was Ihr erwartet hattet…«
»Erwartet?« Micails Lachen klang schrill. »Ich weiß selbst nicht mehr, was ich erwartet hatte! Aber was Rajasta uns beschrieb, klang - primitiver als - das alles hier.« Er deutete nach draußen auf die morschen Gebäude von Belsairath.
»In einem Land voller Wilder wäre tatsächlich alles
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