Die Ahnen von Avalon
wäre zu nichts mehr nütze? Alyssa mochte zunehmend die Kontrolle über ihre Gabe verlieren, doch selbst wenn sie irre redete, konnte sie an Wahrheiten erinnern, die man nicht ungestraft vergaß.
Als die Nächte kühler und länger wurden, wurden die letzten Hütten fertig gestellt. Sie waren keine prächtigen Villen, aber zumindest waren sie nicht mehr zugig und feucht. Man machte sich sogar mit Feuereifer daran, ein richtiges Versammlungsgebäude zu bauen, doch der kalte Regen behinderte die Arbeiten.
Es war ein hartes Leben. Manchmal schien sich der eisige Nebel gar nicht mehr lichten zu wollen. Immerhin hatten sie im Sommer ausreichende Vorräte anlegen können, sodass sie nicht zu hungern brauchten, auch wenn die Kost ziemlich eintönig war.
Am Vorabend der Wintersonnenwende zog vom Meer her eine neue Sturmfront auf. Tiriki war in ihrer Hütte und schlüpfte zum Schutz vor der Kälte in eine zweite Tunika, als sie einen spitzen Schrei hörte.
»Damisa? Was hast du?«, rief sie. »Stimmt etwas nicht?«
»O nein«, kam die Antwort. »Es ist nur so schön.«
Tiriki wickelte sich ein zweites Tuch um die Schultern, dann trat sie an die Tür und löste die Riemen, mit denen der Ledervorhang festgezurrt war.
»Seht doch nur!«, flüsterte Damisa, und Tiriki stockte der Atem.
Es wehte ein frischer Wind, und die Bäume zeichneten mit ihren schwarzen Ästen ein fransiges Netz vor den Himmel. Durch die kohlschwarzen und perlgrauen Wolken zogen sich Streifen in allen nur erdenklichen Lavendel-, Lila-und Rosatönen. Der Garten von Tirikis Mutter hatte in einem ähnlichen Farbenrausch geschwelgt, doch um einen Himmel von so herzzerreißender Schönheit zu erleben, hatte sie erst in dieses fremde neue Land kommen müssen.
»Sturmflügel«, murmelte sie halblaut. »Wunderflügel.«
Das Himmelsfeuer vertiefte sich mit jeder Sekunde, bald flackerte jede Wolke scharlachrot wie ein Phantomfeuer. Für einen Moment glaubte Tiriki, noch einmal Ahtarraths Todesflammen zum Himmel lodern zu sehen. Sie trat näher an ihre Schülerin heran. Damisas helle Haut schien im Glanz der sterbenden Sonne von innen heraus zu leuchten.
Die Lehrsätze aus ihrer Kindheit kamen Tiriki in den Sinn. Die Sonne übergibt nur vorübergehend die Macht an Nar-Inabi, der die Meere und die nächtlichen Sterne formt, erinnerte sie sich. Zwar besteigt Banur der Zerstörer im Winter für kurze Zeit den Thron, doch der Gott mit den Vier Gesichtern ist zugleich der Bewahrer, und unter seiner Herrschaft wird der Weg bereitet für das immer wiederkehrende Wunder, wenn Ni-Terat, die Dunkle Allmutter, Caratra die Nährerin zur Welt bringt.
Immer noch fröstelnd, aber seltsam getröstet steckte Tiriki die Enden ihres Umschlagtuchs fest und wartete das Ende des Schauspiels ab. Allmählich erloschen die Farben bis auf einen kleinen Rest Violett. Der letzte Lichtstreifen schrumpfte zu einer grellroten Schwertspitze, die zu einem purpurnen Pünktchen verblasste und endlich verschwand.
Inzwischen hatten sich auch andere Zuschauer eingefunden.
»Der Herr des Tages hat sein Antlitz von der Erde abgewandt«, verkündete Tiriki. »Sind alle Herdfeuer gelöscht?« Zu Hause hätte man am Vortag der Sonnenwende die Feuer bereits mittags ausgehen lassen, aber hier hatte Chedan vernünftigerweise erklärt, die Überlieferung verbiete offene Flammen nur während der eigentlichen Zeremonie.
Die Atlantiden scharrten und stampften ungeduldig mit den Füßen. Die heutige Nacht würde kälter und dunkler werden, als sie es jemals erlebt hatten; nicht einmal Chedan Arados hatte je einen Winter so hoch im Norden verbracht. Obendrein verwehrten ihnen die Sturmwolken den Blick auf die Sterne. Nicht einmal Manoahs Bote, der Mond, würde sich zeigen. Nur Caratras Stern leuchtete am Horizont und ließ hoffen, dass der Welt Leben und Licht erhalten blieben.
Bald sollte das Ritual zur Wintersonnenwende beginnen, und noch nie war es ihnen so nötig erschienen wie hier. In dieser trostlosen Umgebung fiel es schwer, die alten Überzeugungen zu bewahren. Überlieferung und Verstand versicherten Tiriki, dass die Sterne weiter schienen, auch wenn sie nicht zu sehen wären. Doch in ihrem Herzen flüsterte eine Urangst mit zitternder Stimme, wenn ihre Gebete nicht erhört würden, so fände diese Nacht niemals ein Ende.
Im Zentrum des Steinkreises auf dem Heiligen Berg traf Chedan seine Vorbereitungen für das Ritual. Er hatte natürlich mit allen Angehörigen der Priesterkaste seit der
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