Die Ahnen von Avalon
Lärm lauter. Micail wälzte sich schwerfällig aus dem Bett, stolperte über die gewebte Fußmatte und öffnete mit ungeschickten Fingern die Läden, die wegen der feuchten Nachtluft geschlossen waren. Von Westen rollte eine neue Sturmfront mit heftigen Regenfällen heran, aber zwischen den Wolkenstreifen zeigte sich Manoahs Bote, der junge Mond, auf dem Weg zu seiner Ruhestätte hinter dem Horizont, und die Sterne leuchteten schwach und kalt.
Auch die Welt ruhte. Alles war still und dunkel - bis auf Belsairath. Auf den schlammigen Straßen vor dem Gasthof wimmelte es von Fackeln, und auf dem Platz, wo die Straßen sich kreuzten, loderte ein riesiges Feuer, um das die Menschen grölend herumtanzten.
Ist etwa ein neues Schiff angekommen? Er spähte angestrengt in Richtung Hafen, doch dort war alles still und dunkel. Verwirrt rieb er sich die Augen, denn ein anderer Grund für eine derart ausgelassene Feier wollte ihm nicht einfallen.
Die Tür zu seinem Zimmer wurde geöffnet, und im Schein der Flurlampe, die Tag und Nacht brannte, erkannte er Jiritarens hagere Gestalt.
»Du bist also wach! Kein Wunder bei dem Klamauk da draußen!« Jiritaren hörte sich wie immer so an, als unterdrückte er nur mit Mühe ein Lachen.
»Wie soll man da auch schlafen können?« Micail zeigte auf das Fenster. »Was, im Namen aller Götter, hat dieser Aufruhr zu bedeuten?«
»Hat dir das denn niemand gesagt? So feiert man hier die Wintersonnenwende!«
»Ach so.« Micail zog achselzuckend die Läden wieder zu. Nun war es nicht mehr ganz so laut. Er hatte gewusst , dass Mittwinternacht war, aber er hatte es abgelehnt, am Ritual des Neuen Feuers in Prinz Tjalans Villa teilzunehmen. »Ich bin in letzter Zeit nicht so ganz auf dem Posten.«
»Aber deine Stimme klingt so munter wie seit langem nicht. Komm, etwas mehr Helligkeit kann nicht schaden!« Jiritaren entzündete einen Kienspan an der Flamme im Flur und hielt ihn an die Lampe in Micails Zimmer.
»Ja-a-a«, sagte er dann und schaute Micail ins Ohr. »Da ist doch tatsächlich jemand zu Hause. Gerade noch zur rechten Zeit.«
»Hör auf!« Micail tat so, als wollte er nach ihm schlagen, dann wandte er sich ab und suchte nach seinem Becher. Hoffentlich war noch ein Schluck Wasser da. »Aber ich bin froh, dass du hier bist. Ich freue mich sogar über das verdammte Fest. Höchste Zeit, dass hier etwas Stimmung aufkommt.« Er hielt inne und sah Jiritaren misstrauisch an. »Was meinst du mit ›gerade noch zur rechten Zeit‹?«
»Haladris und Mahadalku haben eine Sondersitzung des Rates einberufen - keine Aufregung, es geht erst nach dem Morgengebet richtig los. Aber ich komme eben vom Ritual zurück, und da ich zufällig weiß, dass du oft lange aufbleibst, dachte ich, es könnte dich interessieren…«
»Und wie«, knurrte Micail. »Aber vielleicht bist du so freundlich, mir zu sagen, worum es eigentlich geht?«
Jiritarens schwarze Augen blitzten. »Ich wollte eben dazu kommen. Die übersinnlich Begabten von Tarisseda, mit denen Stathalkha zusammenarbeitet, haben den Ort gefunden. Er ist nicht allzu weit weg.«
»Welchen Ort?«
»Die Kraftquelle, die wir brauchen, um unseren Tempel zu errichten. Naranchada konnte sogar nachweisen, dass die Energien der beiden Ströme mit hoher Wahrscheinlichkeit dort zusammenwirken. Die Stelle liegt in der Gegend, von der Prinz Tjalan gesprochen hat, im Stammesgebiet der Ai-Zir.«
Micail runzelte die Stirn. Sein Verstand begann zu arbeiten wie seit vielen Monaten nicht mehr. »Wenn Ancha meint, es sei der richtige Ort, dann sollten wir bald mit der Planung beginnen…« Er unterbrach sich. Jiritaren hatte laut gelacht.
»Nein, nein, sprich weiter. Ich freue mich nur, weil du dich fast wieder wie der alte Micail anhörst, und darauf haben wir schon viel zu lange gewartet.«
»Du hast vermutlich Recht.« Selbst wenn der Traum nur ein Trugbild gewesen sein sollte, dankte Micail den Göttern, die es ihm geschickt und ihm damit die Kraft gegeben hatten, seiner Aufgabe nachzukommen.
Sollte Tiriki heute in den Hafen einsegeln, dachte er, ich müsste mich schämen, ihr gegenüberzutreten. Ich war die ganze Zeit untätig. Aber das hat jetzt ein Ende.
Jiritaren war wieder ernst geworden und nickte. »Sie möchten, dass du die Expedition anführst. Tjalan will dich unbedingt begleiten, aber er muss wahrscheinlich bald wieder hierher zurückkehren, um die Aufsicht zu führen. Du bist als Einziger ranghoch genug, um die Soldaten zu befehligen - und
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