Die Akte Daniel (German Edition)
teuren Service wäre bei diesem Anblick zweifellos blass geworden. Fearman bevorzugte für sich zuhause große schwere Tassen aus robustem Steingut. Nichtsdestotrotz trank er mit sichtlichem Genuss und schenkte sich selbst nach.
Demetrius setzte sich ebenfalls und nahm sich Tee. Ein paar Minuten vergingen schweigend, nur das Feuer im Kamin knackte. »Heute bin ich seit genau zwei Jahren und drei Monaten hier«, durchbrach Demetrius unvermittelt die Stille.
»Zählst du auch die Tage?«
»Was soll ich sonst tun? Ich ritze zwar keine Striche in die Wand wie ein Kerkerinsasse, aber ja, ich zähle sie. Und du warst in der Zeit genau Zweihundertdreiundvierzigmal hier.«
Fearman lächelte. »Ja, war ich. Ich habe am Anfang Angst um dich gehabt. Aber jetzt freue ich mich jedes Mal, dich zu sehen. Ich freue mich, dass es dir gut geht und dass du seit Neuestem sogar wieder mit mir streitest.«
»Jeder braucht ein Ziel im Leben«, gab Demetrius zurück, obwohl er heute gar nicht sarkastisch hatte sein wollen. »Allerdings geht es mir heute so gut wie lange nicht.« Demetrius nippte an seinem Tee und warf seinem Gegenüber einen Blick zu. »Deine Bemühungen haben sich gelohnt. Vielleicht sollte ich mich endlich bedanken.«
Fearman richtete sich unwillkürlich gerade auf. »Ach, und an was hast du so gedacht?«
Rote Augen musterten ihn über den Rand der Tasse, eine stumme Einladung in ihnen. »Vielleicht ist es Zeit ... einander wieder näherzukommen? Falls du immer noch Interesse hast ... «
Demetrius gefiel gar nicht, wie unsicher er klang. Allein die Vorstellung, Fearman könne ihn abweisen, tat fast weh. Andererseits machte Demetrius sich keine Illusionen; selbst nach all der Zeit der Schonung wirkte er immer noch wie sein eigener Geist. Andererseits hatte er nie verstanden, was an ihm Fearman eigentlich gefiel.
Fearmans Augen wurden schmaler und ein dumpfes Grollen war zu hören. Zu leise, als dass es außer Demetrius noch jemand anders hätte hören konnte. Aber sie waren sowieso allein bis auf die Wächter, die die Grenzen des Anwesens beschützten und abschirmten. »Warum sollte ich dich abweisen?«, wisperte Fearman.
»Weil ich nur noch ein Vogel ohne Flügel bin?«, gab Demetrius leise zurück.
Fearman entblößte seine Eckzähne. »Nur gestutzt, nicht dauerhaft eingeschränkt.«
Demetrius setzte seine Tasse ab. Dann hilf mir, wieder fliegen zu lernen , bat sein Blick; laut aussprechen konnte er diese Worte nicht. Doch es war das erste Mal seit Ewigkeiten, dass er einen anderen Menschen um etwas bat, begriff er in diesem Augenblick. Aber es war nicht schlimm, im Gegenteil.
Sein Geliebter sah ihn mit Augen an, die ihm versprachen, dass sein Wunsch in Erfüllung gehen sollte. So fern sie einander manchmal auch waren, jetzt verstanden sie sich ohne Worte. Das Porzellan klirrte leise, als Fearman die Tasse abstellte, Demetrius seine Tasse abnahm und auch diese zurückstellte. Er zog Demetrius auf seine Beine und küsste ihn.
Dieser hielt sich aus Reflex an Fearman fest, wohl wissend, dass seine Knie weich wurden. Kein anderer Mensch konnte bei ihm bewirken, dass er sich so schwach und doch gleichzeitig frei fühlte. Und dies war der erste richtige Kuss seit Ewigkeiten. Er fühlte sich so süß und verboten zugleich an, dass es wehtat. Fearman hielt ihn fest, als sich ihre Lippen schon lange nicht mehr berührten. »Und wie fühlen sich deine Flügel jetzt an, mein weißer Vogel?«
Demetrius erwiderte nichts, sondern strich nur mit den Fingerspitzen über Fearmans Gesicht. Weiße Federn auf dem schwarzen Fell eines Panthers. Größer konnte der Kontrast nicht sein.
»Sie sind schon lange nachgewachsen«, flüsterte Fearman in sein Ohr. »Aber du traust dich nicht zu fliegen. Denn, wenn du fliegst, wirst du die Verantwortung über das übernehmen müssen, was du tust und denkst. Du wirst die Verantwortung übernehmen müssen für das, was du getan und gedacht hast. Hier jedoch bist du sicher, so lange du es willst. Wenn du gehst, dann sind wir hinter dir her. Doch wir sind auch deine einzige Zuflucht. Die Firma wird dich töten. Ein Verräter lebt so lange, wie der Verratene ihn nicht bekommt. Was auch immer du tun wirst, wenn du deine Flügel ausbreitest: Wähle dein Ziel klug.«
Demetrius wusste, dass Fearman recht hatte. Er konnte nicht einfach zurück. Aber für immer hier eingesperrt zu sein war auch nicht, was er wollte. Lieber nahm er draußen in der Welt das Risiko auf sich. »Vielleicht weiß ich
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