Die Akte Daniel (German Edition)
der Seite an. »Ist was los, Doc?«
Doktor Fearman erwiderte den Blick stoisch. Nachtlinge waren vielleicht keine Telepathen, aber sie kannten sich untereinander besser als »normale « Menschen es je vermochten. Und Gefühle waren für sie spürbar, als lasen sie in einem Buch. Dennoch log Fearman, auch wenn er wusste, dass es unter Umständen nicht wirklich reichte. »Nein, wie kommst du darauf? Alles klar.«
Wie vermutet nahm Sunday ihm das nicht ab, aber er überhörte auch die unausgesprochene Warnung. »Ich weiß nicht. Sie sehen etwas besorgt aus. Hat Ihnen Jason Beunruhigendes erzählt? Oder vermissen Sie selber solche Romantik im Leben?« Es war ein Schuss ins Blaue.
Doktor Fearman sah ihn nun gewittrig an. »Sunday!«, rief er mit drohend erhobener Stimme. »Wag dich nicht auf verbotenes Gebiet.«
»Ich? Das war kein Antrag, Doc, keine Sorge.« Sundays Grinsen wurde noch breiter.
Doktor Fearman machte eine drohende Geste in der stillen Hoffnung, dass Sunday so reagierte, wie er es auch sonst tat, wenn man ihn bei einer Frechheit erwischt hatte. »Verschwinde!«, riet er ihm.
Noch immer schmunzelnd stand Sunday auf, um die Kakaotassen in die Küche zu bringen. Sieh an, er hatte ins Schwarze getroffen.
Offenbar war Fearman mit seinem Liebesleben gerade nicht zufrieden; ob er überhaupt keines hatte oder es einfach nur kriselte, konnte Sunday nur erraten. Fearman war verschlossen wie die sprichwörtliche Auster. Etwas über ihn in Erfahrung zu bringen glich einer Wissenschaft für sich. Aber mehr als Schweigen oder eine Drohung bekam man nicht heraus, genauso wie eben jetzt. Das Thema selbst kam jedoch nur selten auf den Tisch, höchstens wenn über die verliebten Seufzer einiger weiblicher Nachtlinge belustigt getuschelt wurde.
Sunday schob daher die Gedanken an ein mögliches Liebesleben des Doktors zur Seite und kümmerte sich erst einmal um seinen jungen Schützling mit ganz offener Liebessehnsucht und Spuren einer bittersüßen Romantik darin.
Als er sich zu Berenice schlich, stand diese gerade ganz verlegen an Jasons Bett. Der Dämon sah müde aus.
Trotzdem hatte er ein Lächeln im Gesicht, dessen er sich sicher nicht einmal bewusst war. Sunday musste zugeben, dass die beiden unglaublich süß zusammen waren. Geradezu nervtötend süß, weil man ihnen partout helfen wollte und es doch nicht konnte.
»Und, hat der Doc Sie nicht zu sehr genervt?«, fragte er Jason munter, der ihn natürlich sofort entdeckt hatte.
»Er hat mich nicht genervt. Es waren nur Fragen.« Er lächelte und wirkte sehr erleichtert, was Sunday gut verstehen konnte.
»Dann ist ja gut. Ansonsten ist der Doc nicht halb so schlimm, wie er tut. Das habe ich Berenice auch schon versichert.«
Jason sah ihn zweifelnd an, schwieg aber dazu. Er hatte durch Doktor Fearman eine offene Warnung erhalten. Ganz sicher würde er diesen Mann nicht unterschätzen. Dennoch war er ihm einfach nur dankbar, denn nur ihm war es zu verdanken, dass Jason noch nicht tot war. Er drückte Berenices Hand. »Ich schätze, es wird Zeit für dich, dass du gehst, nicht wahr?«
Das Mädchen nickte, schien aber nicht sehr geneigt, von Jasons Seite zu weichen.
»Wir können morgen wieder vorbeikommen«, bot Sunday an.
»Wirklich?«, fragte sie ihn voller Zweifel.
»Ja, ist echt kein Problem nach dem Unterricht. Und ich denke, man wird Sie auch noch woanders hin verlegen«, setzte Sunday an Jason gewandt hinzu. »Vielleicht auch zu uns.«
»Was ist zu uns ?«, fragte Jason ihn. »Meinen Sie die Schule?«
»Wer weiß? Das muss der Doc entscheiden.« Sunday zuckte mit den Schultern; er wusste natürlich nicht, was weiter werden würde. Diese Entscheidung lag nicht bei ihm und auch nicht die Verantwortung dafür.
Unangenehmes Schweigen breitete sich nach dieser Feststellung aus. Jason lächelte Berenice gequält an.
»Wir sollten wirklich gehen«, flüsterte das Mädchen. »Der Doktor hat gesagt, dass du Ruhe brauchst. Du bist noch schwach.«
Ebenfalls widerstrebend ließ Jason die Hand des Mädchens los und Sunday zog Berenice schnell aus dem Zimmer, ehe die beiden noch miteinander zu verwachsen drohten.
19
Ein unbewohnter Landsitz in der Grafschaft Yorkshire südlich von York – Aufenthaltsort von Demetrius Archer
Demetrius war zufrieden mit sich. Er fühlte sich so fit wie schon seit Langem nicht mehr, hatte weder um Atem ringen noch sich zwischendurch hinsetzen müssen, als er sein »Heim « erkundet hatte. Er war die längste
Weitere Kostenlose Bücher