Die Akte Golgatha
zweihunderteinunddreißig!«
Mit der rechten Faust umklammerte Ramón den Stiel seines leeren Champagnerglases. Sein Gesicht, das inzwischen eine tiefrote Farbe angenommen hatte, schien zum Platzen gespannt. Man sah, wie es in ihm arbeitete, wahrscheinlich kämpfte er gerade mit den Versuchungen des Teufels. Schließlich erwiderte er theatralisch und mit verklärtem Gesichtsausdruck: »Wenn ich schwach bin, bin ich stark!«
Francesca sah ihn verständnislos an: »Wie bitte?«
»… Schreibt der Apostel Paulus im Zweiten Brief an die Korinther!«
»Ein kluger Mann. Also worauf warten wir?«
Ramón knallte seine Kreditkarte auf den Tresen. »Die Rechnung!«, raunzte er den Barmann an.
Unbemerkt warf Francesca einen Blick auf den Namen, der auf der Kreditkarte eingeprägt war: Ramón Rodriguez. – Gropius hatte den Namen Rodriguez einmal erwähnt. Sie war auf der richtigen Fährte.
»Wo ist der Stoff?«, wiederholte Ramón Rodriguez seine Frage, während sie sich gegenseitig stützend die breite Marmortreppe emporstiegen, die zur Lobby des Hotels führte.
»Lass uns später darüber reden«, meinte Francesca geistesgegenwärtig und stellte Ramón damit fürs Erste zufrieden. Mit Mühe gelang es ihr, den angetrunkenen Mann nach oben zu bringen; aber was dann geschah, spielte sich so schnell und unerwartet ab, dass sie sich später nur noch schemenhaft daran erinnerte.
Als sie auf dem Treppenabsatz anlangten, sprangen von beiden Seiten zwei dunkel gekleidete Männer auf sie zu, packten Rodriguez an den Armen und zerrten ihn durch die nahe Drehtür ins Freie. Der Überfall lief geräuschlos und ohne jedes Aufsehen ab, und Ramón leistete keinerlei Gegenwehr.
Erst nach ein paar Augenblicken, in denen sie wie erstarrt da stand, wurde Francesca klar, was soeben passiert war, und sie bekam es mit der Angst zu tun. Vorsichtig nach allen Seiten blickend, trat sie in die Drehtür, dann lief sie zu einem der Taxis, die vor dem Hoteleingang warteten.
Die Fahrt vom ›Bayerischen Hof‹ zum Hotel ›Richard Wagner‹ dauerte gerade fünf bange Minuten, in denen Francesca, die auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, unruhig in den Rückspiegel blickte, ob ihnen ein Fahrzeug folgte. Am Ziel angelangt, drückte sie dem Fahrer einen Geldschein in die Hand und bat, er möge sie bis zum Hoteleingang begleiten. Der Fahrer, ein untersetzter Typ südländischer Herkunft, hatte schon für weniger Geld unangenehmere Dienste verrichtet, deshalb kam er der Bitte der hübschen Lady gerne nach.
Anders als in dem vornehmen Luxushotel, war im ›Richard Wagner‹ die Hotelhalle oder besser: der Eingangsbereich verwaist. Francesca musste auf eine Handglocke schlagen, die auf dem Tresen stand, erst dann näherte sich aus einer Kammer hinter dem Schlüsselbrett ein bärtiger Alter und händigte ihr den Schlüssel aus.
Sie hatte ein ungutes Gefühl, das sie, nachdem sie den Lift im dritten Stock verlassen hatte und den kalten Hotelkorridor entlangging, zu verdrängen suchte. In dem Gespräch mit Ramón Rodriguez hatte sich Francesca in eine gefährliche Situation gebracht. Für sie gab es keinen Zweifel, dass ihre Begegnung mit dem lüsternen Priester beobachtet und in der Absicht beendet wurde, den redseligen Rodriguez mundtot zu machen. Gefährlich erschien ihr die Situation deshalb, weil Ramóns Weggenossen glauben mussten, er habe im Suff zu viel ausgeplaudert.
Als sie ihr Zimmer betrat, fielen ihr sofort die offen stehenden Schranktüren ins Auge. Kleidungsstücke lagen auf dem Boden verstreut. Sie hatte es geahnt. Ohne sich weiter umzusehen, schlug sie die Tür zu und rannte über die Treppen nach unten, wo sie auf den bärtigen Nachtportier traf.
»Hat jemand nach mir gefragt?«, herrschte sie den Alten an.
Der brauchte etwas Zeit, um sich zu erinnern. Dann antwortete er: »Nein, gnädige Frau. Aber da war ein Anruf. Ein Mann fragte, ob Sie auf Ihrem Zimmer seien, und als ich verneinte, fragte er nach Ihrer Zimmernummer. Das war alles. Ist etwas nicht in Ordnung?«
Ohne zu antworten, stürmte Francesca aus dem Hotel, überquerte die Straße und hastete zu einem Taxistandplatz in Sichtweite des Bahnhofs. »Nach Grünwald!«, keuchte sie atemlos.
Kurz nach Mitternacht kam das Taxi vor Gropius' Villa zum Stehen. Im Haus brannte kein Licht. Was tun, wenn Gropius nicht zu Hause war? Vorsorglich bat sie den Fahrer, eine Weile zu warten, bis sie im Haus verschwunden war.
Auf ihr Klingeln rührte sich nichts. Zeit verging, wie
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