Die Akte Golgatha
Gespräch endete abrupt.
Der Mord an Sheba Yadin machte international Schlagzeilen. Vor allem das rätselhafte Kürzel IND, das von Sheba im Todeskampf und mit letzter Kraft auf die Platte des Labortischs geschmiert worden war, setzte wilde Spekulationen in Gang. Der BND, der das Problem auch mit aufwändigen Dechiffriermethoden nicht zu lösen vermocht hatte, sah sich aufs Neue herausgefordert.
Wolf Ingram, der Leiter der Sonderkommission, die seit Monaten im Trüben fischte, ohne ein konkretes Ergebnis vorweisen zu können, nutzte die Gelegenheit der Stunde und ging in die Offensive. In einem Interview mit der italienischen Zeitung Stampa Sera deckte er mögliche Zusammenhänge zwischen dem Mord an der israelischen Archäologin und den deutschen Transplantationspatienten auf. Ein gefundenes Fressen für Boulevardzeitungen in ganz Europa.
Einen Tag nach ihrer Festnahme wurde Signora Selvini wieder freigelassen. Ihr Anwalt konnte für die in Frage kommende Mordzeit ein lückenloses, von zwei Zeugen bestätigtes Alibi nachweisen und hinterlegte eine Kaution von zwanzigtausend Euro.
Dafür erreichte Gropius in seinem Hotel ein Anruf von Commissario Artoli. Artoli sprach zwar nicht Deutsch, aber hervorragend Englisch und bestand darauf, er, Gropius, solle das Hotel bis zu seinem Eintreffen nicht verlassen. Er solle im Mordfall Sheba Yadin eine Aussage machen. Gropius hatte kein gutes Gefühl. Woher kannte Artoli seinen Namen, und woher wusste er, dass er im ›Le Méridien Lingotto‹ abgestiegen war?
Wider Erwarten wirkte Artoli auf Gropius keineswegs unsympathisch. Er pflegte höfliche Umgangsformen und begann sein Verhör, das in einer ruhigen Ecke der Hotelhalle stattfand, mit den Worten: »Tut mir Leid, mein Herr, dass ich Ihren Aufenthalt in Turin mit einer unangenehmen Sache unterbreche.«
Gropius machte eine unwillige Handbewegung. »Bitte keine Umstände, Commissario, ich weiß, worum es geht. Was wollen Sie von mir wissen?«
»Nun ja.« Artoli vermittelte den Eindruck, als habe er alle Zeit der Welt und als stünde er über den Dingen, jedenfalls wirkte die Ruhe, die er ausstrahlte, beinahe provozierend. »Professore«, begann er mit einem Lächeln, »Sie haben bei der American-Express-Bank in Turin zwanzigtausend Euro abgehoben. Können Sie mir erklären, was Sie mit dem Geld gemacht haben?«
Die Frage traf Gropius ganz und gar unerwartet und brachte ihn völlig aus dem Konzept. Unwillig erwiderte er: »Zwanzigtausend? Woher wollen Sie das wissen?«
Artoli hob die Schultern. Als Gropius mit der Antwort zögerte, erklärte er: »Die Signora am Schalter erinnerte sich an die Transaktion, als sie in der Zeitung las, dass sowohl die Tote als auch Signora Selvini genau diese Summe bei sich trugen.«
Gropius fühlte sich in die Enge getrieben. Wie sollte er sich verhalten? Er konnte unmöglich die Wahrheit sagen! Die Wahrheit war so absurd, dass er sich nur noch verdächtiger machen würde. Nein, er wollte schweigen. Niemand konnte ihn zwingen, über den Verbleib seines Geldes Rechenschaft abzulegen.
»Zwanzigtausend Euro sind viel Geld, zumindest für einen kleinen Commissario. Aber selbst ein Professore geht nicht mit dieser Summe in der Tasche spazieren oder zum Einkaufen in ein Geschäft. Also, wo ist das Geld geblieben, Professore?«
»Ich bin nicht verpflichtet, Sie darüber aufzuklären!«, entgegnete Gropius ungehalten. »Das Geld ist ehrlich verdient und in Deutschland versteuert, und niemand kann mich daran hindern, es in Italien auszugeben.«
»Da haben Sie völlig Recht, Professore. Eine Erklärung Ihrerseits könnte Sie allerdings in diesem Mordfall entlasten.«
»Was heißt hier entlasten? Wollen Sie damit sagen, dass Sie mich des Mordes an Sheba Yadin verdächtigen?«
»Kannten Sie die Tote?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Merkwürdig. Das ist schon ein seltener Zufall. Da sitzen Sie beide im selben Flugzeug von Tel Aviv nach Rom, dann steigen Sie um in eine andere Maschine von Rom nach Turin, und wer sitzt wieder in diesem Flugzeug? Sheba Yadin. Und zwei Tage später ist diese Sheba Yadin tot. Das Leben schreibt wirklich seltsame Geschichten. Finden Sie nicht?«
Gropius blickte irritiert. »Woher wissen Sie das alles?«
Der Commissario setzte sein überlegenes Lächeln auf und antwortete: »Die italienischen Polizisten werden zwar schlecht bezahlt, aber deshalb sind sie nicht dümmer als andere.« Er zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und breitete es vor
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