Die Akte Golgatha
Gropius aus. »Ein Fax des Landeskriminalamts in München! Darin steht, Sie seien derzeit beurlaubt, weil ein Patient in Ihrer Klinik bei einer Lebertransplantation durch eine Chlorphenvinphos-Injektion zu Tode gekommen ist. Sheba Yadin starb ebenfalls an einer Chlorphenvinphos-Injektion. Verrückt, nicht?«
Gropius spürte, wie das Blut in seinen Schläfen hämmerte. Er dachte, er hätte das alles längst hinter sich, und jetzt begann das perfide Spiel von neuem. In seiner Verzweiflung fuhr er sich mit der Hand über die Augen. »Ja, ich gebe zu, das klingt verrückt, sogar mehr als verrückt. Trotzdem habe ich mit dem Mord nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil.«
»Im Gegenteil? Professore, wie soll ich das verstehen?«
»Ich war hinter Sheba Yadin her, um diesen Mord in meiner Klinik aufzuklären!«
»Sie hielten Sheba Yadin für eine Mörderin?«
»Nein, aber ich glaubte, sie würde mich auf die richtige Fährte führen! Sheba Yadin verfügte über Kontakte zur Mafia oder zu einer geheimen Organisation.«
Der überlegene Blick des Commissario brachte Gregor Gropius zur Raserei. Artoli zeigte überdeutlich, dass er ihm nicht glaubte. Im Bruchteil einer Sekunde brannten bei Gropius alle Sicherungen durch. Er sprang auf, machte einen Satz über einen Sessel hinweg und rannte in Richtung des Hotelausgangs, wo sich ihm zwei Carabinieri in den Weg stellten und ihn bis zum Eintreffen Artolis festhielten.
Der schüttelte den Kopf, als er Gropius gegenübertrat, und sagte in der ihm eigenen Gelassenheit: »Aber, aber, Professore, warum wollen Sie fliehen, wenn Sie sich keiner Schuld bewusst sind? Nein, das war keine gute Idee. Ich nehme Sie vorläufig fest. Sie stehen unter Mordverdacht. Es steht Ihnen frei, sich einen Anwalt zu nehmen und von nun an jede Aussage zu verweigern.«
Gropius vernahm Artolis Worte wie aus weiter Ferne. Als der Commissario ihn aufforderte, in Begleitung der beiden Carabinieri auf sein Hotelzimmer zu gehen und die nötigsten Sachen einzupacken, kam er der Aufforderung wie in Trance nach. Später konnte er sich nicht mehr erinnern, wie er auf sein Zimmer und zurück in die Halle gelangt war. Seine einzige Erinnerung blieb Pierre Contenau, dem er, als er von zwei Polizisten flankiert aus dem Lift trat, plötzlich gegenüberstand. Im ersten Augenblick zweifelte er, ob der Mann wirklich Contenau war; aber dann sah er dessen fieses Grinsen, und Gropius schob alle Zweifel beiseite.
Kardinalstaatssekretär Paolo Calvi verschränkte die Hände auf dem Rücken und blickte durch das hohe Fenster hinab auf den Petersplatz. Er hielt genügend Abstand, dass er vom Platz aus nicht gesehen werden konnte – ein ketterauchender Kardinal, die Gauloise im linken Mundwinkel, machte sich einfach nicht gut. Seiner Sucht verdankte Calvi ein offenes Magengeschwür, das in seinem Gesicht deutliche Spuren hinterlassen hatte. Tiefe Falten an Augen und Mund ließen den sechzigjährigen Würdenträger wie einen Achtzigjährigen erscheinen. Die Sonne warf einen scharfen Lichtstrahl in den rauchgeschwängerten Raum, einen Saal mit roten Stofftapeten und musealer Einrichtung, unmittelbar unter den Wohnräumen des Papstes gelegen.
Paolo Calvi galt als der eigentliche starke Mann hinter den Mauern des Vatikans, so weit man, was den Kirchenstaat betraf, überhaupt noch von Stärke reden konnte. Als Kardinalstaatssekretär hatte er sich in der Kirche eine eigene Hausmacht geschaffen, die sogar seine Freunde fürchteten. Er bestimmte die Richtlinien der vatikanischen Politik, und seine Untergebenen flüsterten hinter vorgehaltener Hand, er leide an Herrschsucht, ein Phänomen, das vielen Klerikern zu Eigen ist, die sich aus kleinsten, meist bäuerlichen Verhältnissen in der Kirchenhierarchie emporgearbeitet haben.
Aus dem Hintergrund des Raumes trat Monsignore Antonio Crucitti in das verrauchte Ambiente und wedelte, solange der Kardinalstaatssekretär ihm den Rücken zuwandte, den sauren Rauch aus seinem Gesichtsfeld. »Laudetur, Eminenza!«, rief der Monsignore, um sich auf dem jedes Geräusch verschluckenden Teppich bemerkbar zu machen, und zur Sicherheit noch einmal »Laudetur, Eminenza!« – was in wörtlicher Übersetzung soviel heißen würde wie ›Gelobt sei Jesus Christus, Eure Erhabenheit!‹, aber daran dachte im Vatikan niemand, der diese Grußformel gebrauchte.
Calvi, noch immer die Gauloise zwischen den Lippen, wandte sich um, hüstelte künstlich, dass die Zigarette jeden Augenblick auf den Boden
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