Die Akte Golgatha
Abendnachrichten liefen.
Gregor verstand die Meldung nicht, die der Sprecher verlas, aber Francesca wurde blass. Kaum hatte der Sprecher geendet, schaltete sie das Radio aus. »Im Klinikum in Milano«, begann sie stockend, »wurde ein Patient nach einer Organtransplantation ermordet. Vermutlich mit einer Giftinjektion. Die Polizei vermutet den Täter unter dem Klinikpersonal und hat eine Sonderkommission eingerichtet.«
Sie hatten die hell erleuchtete Einfallstraße erreicht. Die Peitschenlampen am Straßenrand warfen in regelmäßigen Abständen einen grellen Lichtkegel in das Wageninnere. Noch immer hielt Gropius sein Notizbuch aufgeschlagen in Händen. Als er den Kopf senkte, fiel ein Lichtstrahl auf seine Handschrift: ›Nächstes Ziel unserer Aktion – Milano‹. Er rang nach Luft.
K APITEL 16
M issgelaunt betrat Gropius am nächsten Morgen den Früstücksraum des Hotels ›Le Méridien‹. Er hatte so schlecht geschlafen wie all die Tage zuvor. Überstürzt waren sie am Abend auseinandergegangen, nachdem Francesca ihn vor dem Hotel abgesetzt hatte. Gegen Mittag wollten sie miteinander telefonieren.
In Gedanken versunken nahm er an einem freien Tisch Platz, besteilte Tee mit Milch und holte sich vom Buffet zwei Hörnchen und Marmelade, wie es seiner Gewohnheit entsprach. Missmutig kaute Gropius an seinem Hörnchen herum und warf einen flüchtigen Blick auf die wenigen Frühstücksgäste an diesem Morgen, als ein in vornehmes Schwarz gekleideter Herr an seinen Tisch trat und ihm freundlich einen guten Morgen wünschte. Der Mann sprach Deutsch mit italienischem Akzent und war beinahe zwei Meter groß.
»Crucitti«, stellte er sich mit einer leichten Verbeugung vor, »haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
Obwohl er lieber seine Ruhe gehabt hätte, wollte Gregor nicht unhöflich sein, und mit einer einladenden Handbewegung erwiderte er: »Bitte nehmen Sie Platz, Signore, mein Name ist Gropius.«
»Ich weiß«, bemerkte Crucitti schmunzelnd, »ich weiß.«
Verblüfft sah Gropius den Frühstücksgast an und fragte sich, ob er sich nicht verhört habe.
Doch der fuhr fort: »Sie kennen mich nicht, Professore, aber wir kennen Sie umso besser!«
»Wie darf ich das verstehen? Wer ist ›wir‹?«
Crucitti verdrehte die Augen. »Die römische Kurie«, erwiderte er schließlich. Dabei klang seine Stimme vorwurfsvoll, als sei es ein Versäumnis, seinen Namen nicht zu kennen.
»Das müssen Sie mir näher erklären«, bemerkte Gropius mit Interesse. »Es wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich Ihnen mitteile, dass ich Ihrer Institution den Rücken gekehrt habe, als meine Kirchensteuern mir erlaubt hätten, einen eigenen Bischof zu halten.«
»Das tut nichts zur Sache«, Crucitti lächelte säuerlich. »Ich hoffe, Avocato Felici hat zu Ihrer Zufriedenheit gearbeitet, Professore!«
Gropius fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Grotesker konnte die Situation nicht sein: Da verfolgte er eine Spur, die geeignet war, Kurie und Vatikan aus den Angeln zu heben, und dann schickten ihm eben diese Leute einen Staranwalt, der ihn aus der Untersuchungshaft holte. Er schüttelte den Kopf und fragte ungläubig: »Wollen Sie damit sagen, dass sich die römische Kurie für meine Freilassung eingesetzt hat?«
Erneut setzte Crucitti sein scheinheiliges Grinsen auf, und er antwortete salbungsvoll: »Die Kirche ist stets auf der Seite der Unschuldigen. Wir wissen, dass Sie nicht Sheba Yadins Mörder sind.«
»Sind Sie sicher, Signore?«
»Sagen Sie Monsignore! Aber, um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ganz sicher.«
»Dann gestatten Sie mir die Frage, Mon signore: Was wollen Sie von mir?«
Crucitti bestellte Kaffee und erwiderte: »Haben Sie von dem Mord im Klinikum in Milano gehört?«
»Allerdings. Und so Leid es mir für den Patienten tut, der Fall kommt mir nicht ungelegen. Ich sehe darin nur einen weiteren Beweis für meine Unschuld. Wir haben es mit einer kriminellen Organisation zu tun, die aus Motiven handelt, die wir nicht kennen. Es ist also grundverkehrt, Ärzte für diese Morde verantwortlich zu machen. Und das ist der Grund, warum ich mich seit Monaten mit nichts anderem beschäftige als mit meiner Rehabilitierung!«
»Das ist durchaus verständlich, Professore; aber gehen Sie mit dem Aufwand Ihrer Recherchen nicht etwas zu weit? Sie laufen Gefahr, selbst in die Mühlen dieser Organisation zu geraten.«
»Das, Mon signore, ist mein Risiko; aber wie Sie sehen, lebe ich noch, und ich
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