Die Akte Golgatha
vier Monaten hatte Gropius jedoch einen kriminalistischen Spürsinn entwickelt, der ihm bis dahin völlig fremd gewesen war. Längst war ihm klar geworden, dass er keineswegs, wie ursprünglich angenommen, die Hauptrolle in diesem niederträchtigen Drama spielte, nein, von beiden Seiten unbeabsichtigt, war er in eine Geschichte geraten, die nur am Rande mit ihm zu tun hatte, für ihn aber dennoch von großer Bedeutung war.
In einem Brief hatte ihn die Klinikleitung aufgefordert, seinen Dienst am ersten März wieder aufzunehmen – unter dem Vorbehalt der endgültigen Klärung des Falles, wie es hieß; aber Gropius hatte mit dem Hinweis abgelehnt, er könne erst dann wieder auf seinen Posten zurückkehren, wenn jeder Zweifel um seine Verantwortung ausgeräumt und er völlig rehabilitiert sei.
Gropius' Oberarzt Dr. Fichte war nach seiner Festnahme in Paris zusammen mit Veronique den deutschen Behörden überstellt worden und hatte ein umfassendes Geständnis abgelegt. Er bestritt jedoch entschieden, irgendetwas mit Schlesingers Tod und den übrigen Mordfällen zu tun zu haben. Für Gropius war es deshalb keine Frage, dass er seine eigenen Nachforschungen fortsetzen würde.
Wie ein Sog hatte ihn das Geschehen in seiner Gewalt. Und selbst wenn er beabsichtigt hätte, seine Recherchen einzustellen, es wäre ihm unmöglich gewesen. Wie unter einem inneren Zwang betrieb Gropius die Aufklärung des Verbrechens, das inzwischen deutliche Züge einer Verschwörung angenommen hatte.
Nur einen Steinwurf von der Plaza de Catalunya entfernt, mietete sich Gropius im Hotel ›Ducs de Bergara‹ ein, einem malerischen Haus mit Halle und Treppenaufgang im Jugendstil. Die freundliche Dame am Empfang – sie sah so spanisch aus, dass sie nur Carmen heißen konnte, obwohl sie diese Nationalität vermutlich brüsk zurückgewiesen und sich als Katalanin bezeichnet hätte –, Carmen hatte ihm ein habitación exterior , ein Zimmer mit Aussicht, empfohlen, fürwahr keine schlechte Wahl. Nun saß Gropius in einem bequemen, grauen Polsterstuhl und überlegte, wie er hinter das Geheimnis des Ramón Rodriguez kommen konnte.
Natürlich hatte Gropius Angst. Er wusste nur allzu gut, wozu Rodriguez und seine Leute fähig waren, und er wusste auch, dass diese Leute immer dann und immer dort auftauchten, wo man es am wenigsten vermutete. Jetzt hegte er die Hoffnung, hier, gleichsam in der Höhle des Löwen, würde man ihn am wenigsten vermuten. Um ganz sicher zu gehen, hatte er auch keinen Direktflug nach Barcelona gewählt, sondern war erst nach Genf geflogen, wo er ein zweites Ticket nach Barcelona löste, so als hätte er sich erst dort zu der Reise nach Spanien entschlossen.
Ein – wenn auch lösbares – Problem bestand darin, dass Gropius kein Wort Spanisch, und, was in dieser Stadt noch wichtiger war, Katalanisch sprach. Auf Empfehlung der freundlichen Empfangsdame des Hotels wandte er sich an das an der Plaza de Catalunya gelegene Fremdenverkehrsamt, wo man ihm eine deutsch sprechende Hostess als Fremdenführerin vermittelte.
Es dauerte keine Stunde, Gropius war in seinem Zimmer gerade etwas eingenickt, da klingelte das Telefon, und eine jugendliche Stimme meldete sich in perfektem Deutsch: »Bon dia! Mein Name ist Maria-Elena Rivas, ich bin Ihr Guide für Barcelona und warte in der Halle. Sie erkennen mich an meiner roten Kleidung!«
Tatsächlich war Maria-Elena nicht zu übersehen. Zum einen, weil sie in ein auffälliges rotes Kostüm gekleidet, im Übrigen aber weil sie geradezu unverschämt hübsch war. Sie hatte dunkle Haare, die im Nacken zu einem Zopf gebunden waren, und maß vom Scheitel bis zur Sohle gerade mal einhundertsechzig Zentimeter, nicht mehr. Ihr Alter war schwer zu schätzen, vielleicht vierundzwanzig. Auf Gregors Frage, warum sie so gut Deutsch spreche, erfuhr er, dass sie Germanistik studiere, aber noch nie in Deutschland gewesen sei.
Gropius hatte lange überlegt, wie er der Fremdenführerin sein Vorhaben erläutern sollte, ohne sich völlig preiszugeben. Aber nachdem Maria-Elena keine Fragen stellte, ließ er es erst einmal damit bewenden.
»Das ist allerdings keine sehr feine Adresse«, meinte Maria-Elena, als er ihr Rodriguez' Adresse nannte, und entschuldigend fügte sie hinzu: »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
Gropius schmunzelte in sich hinein. »Es ist auch kein Freund, hinter dem ich her bin! Eher das Gegenteil, verstehen Sie?«
Das Mädchen spitzte den Mund und stieß ein kurzes
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