Die Akte Golgatha
sagen.«
»Und hast du die Kassette abgehört?«
»Ja. Ich wusste zunächst nichts damit anzufangen. Man hört nur eine aufgeregte Stimme in spanischer Sprache. Aber je öfter ich die Kassette abspulte, desto mehr wuchs bei mir der Verdacht, es könnte sich um Rodriguez' Stimme handeln. Don Roberto, dem ich die Kassette vorspielte, meinte, es sei nicht Spanisch, sondern Katalanisch. Die Übersetzung lautet im Wortlaut: Gerardo, sie werden mich umbringen! Bitte holt mich hier raus. In nom… – die letzten Worte sind unverständlich. Dann hört man eine weitere Stimme, und das Gespräch bricht plötzlich ab. Es klingt wie ein Hilferuf, und im Hintergrund hört man ein Schiffshorn und Möwengeschrei.«
Gregor schwieg. Er schwieg lange, denn er hatte Mühe, das eben Gehörte sinnvoll einzuordnen. Für ihn war die Nachricht auf dem Anrufbeantworter eine Gleichung mit drei Unbekannten. Unbekannt war der Absender, ebenso der Empfänger, und worum es eigentlich ging, blieb ebenfalls im Verborgenen.
»Und du bist sicher, Rodriguez' Stimme erkannt zu haben?«, fragte Gregor endlich.
»Was heißt sicher! Wie ich schon sagte, ich habe ihn erst nach mehrmaligem Hören der Kassette erkannt.«
»Und wie kommst du zu der Annahme, der Anruf komme aus Barcelona?«
»Zugegeben, eine Vermutung, aber nicht ganz aus der Luft gegriffen: Rodriguez spricht Katalanisch – sagt Don Roberto. Und Katalanisch wird nur von sechs Millionen Menschen gesprochen, unter anderem in Andorra, in Alghero auf Sardinien, auf den Balearen und auf dem Küstenstreifen zwischen Perpignan und Alicante, vor allem aber in Barcelona. Und da die E-Mail mit dem Mordauftrag aus Barcelona kam, ist meine Annahme, der Anruf könnte ebenfalls aus Barcelona sein, nicht von der Hand zu weisen.«
»Kluges Mädchen, Kompliment!«
»Oh danke, Signore! Stets zu Ihren Diensten, wenn ich Ihnen wieder einmal behilflich sein kann.«
Spätestens jetzt wurde Gropius klar, dass Francesca ihm hier in Barcelona wirklich von großem Nutzen sein konnte. Aber nicht nur das, er hatte sie seit drei Tagen nicht gesehen und spürte erste Entzugserscheinungen. Warum wehrte er sich dagegen, sich einzugestehen, dass aus dem anfänglichen Geplänkel längst tiefe Zuneigung geworden war?
»Ich wünschte, ich hätte dich mit nach Barcelona genommen«, sagte er unvermittelt ins Telefon.
»Soll das heißen, ich fehle dir?«
»Und wenn ich mit Nein antwortete?«
»Dann würde ich dich bei nächster Gelegenheit erwürgen. Aber wenn du willst, setze ich mich morgen ins nächste Flugzeug und komme nach Barcelona.«
»Das würdest du tun? Hast du überhaupt Zeit?«
»Ach was. Man muss wissen, was einem wichtig ist. Ich liebe dich!« Dann legte sie auf.
Später, als Gropius in seinem Hotelzimmer vor sich hin grübelte und über das weitere Vorgehen nachdachte, kam ihm in den Sinn, wie schäbig er sich Francesca gegenüber verhalten hatte: Ich wünschte, ich hätte dich mitgenommen, hatte er gesagt, und Francesca hatte darauf geantwortet: Ich liebe dich! – Und er? Verdammt, warum konnte er nicht über seinen eigenen Schatten springen? Warum fiel es ihm so schwer, seinen Gefühlen freien Lauf zulassen?
Am nächsten Morgen, Gropius hatte gerade ein Bad genommen und stand im Bademantel vor dem Fenster, um den sonnigen Anblick der Stadt zu genießen, da klingelte das Telefon. Es war Francesca.
»Guten Morgen, hier ist der fröhliche Auftragsdienst. Sie wollten doch geweckt werden?«
Gropius musste lachen. Er war noch zu verschlafen, um schlagfertig zu reagieren, und fragte: »Wo steckst du?«
»Auf dem Flughafen El Prat in Barcelona.«
»Wie?«
»Ich bin schon um fünf Uhr aufgestanden. Es gab nur diese direkte Verbindung. Jetzt bin ich da.«
»Und ich bin noch nicht einmal richtig wach.«
Francesca lachte: »Du weißt, was Napoleon gesagt hat: Vier Stunden schläft der Mann, fünf die Frau und sechs der Idiot.«
»Was ist eigentlich die Steigerung von Idiot?«
»Darüber möchte ich mich nicht näher auslassen. Vor allem nicht an einem so schönen Tag wie heute.«
»Ich hole dich ab!«, rief Gropius lebhaft.
»Nicht nötig. Mein Gepäck ist bereits im Taxi verstaut. Wie heißt dein Hotel?«
»›Ducs de Bergara‹ in der Straße Bergara, nahe der Placa de Catalunya.«
»In einer halben Stunde bin ich da! Ich küsse dich.«
Noch ehe Gregor etwas sagen konnte, hatte Francesca das Gespräch beendet.
Ihre Entschlusskraft und die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Pläne
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