Die Akte Golgatha
hatte. Die stickige Luft, der Dieselgestank und der Lärm der Generatoren schufen eine beklemmende Atmosphäre.
Kühl- und Vorratsräume des Schiffes lagen bugwärts und boten genug Raum für Lebensmittel, von denen hundert Passagiere samt Besatzung ein paar Monate leben konnten. Gut ein Dutzend Mal gingen Gropius und Jiménez den Weg von der Ladeluke zu den Vorratsräumen. Gregor prägte sich jede Türe in seinem Gedächtnis ein, öffnete die eine oder andere und bekam so ein Bild von den Räumlichkeiten.
Auch unter Deck gab es einen bewaffneten, schwarz gekleideten Aufpasser, der seine Aufgabe jedoch weit weniger ernst nahm als die Wachen vor der Gangway. So legte sich Gropius, Kisten schleppend, einen Plan zurecht, den er, noch bevor die letzte Ladung ihr Ziel erreicht hatte, in die Tat umsetzte.
Ohne dass Jiménez es bemerkte, verschwand er in der am vorderen Ende des Korridors gelegenen Wäschekammer, in der sich weiße Tücher, Tisch- und Bettwäsche und Kleidung meterhoch stapelten. Ein grauer Sack mit gebrauchter Wäsche war nur zur Hälfte gefüllt, und Gregor nutzte die Gelegenheit, in dem Sack zu verschwinden.
Später wusste er nicht mehr zu sagen, wie lange er in dem Sack ausgeharrt hatte – einmal glaubte er Jiménez' Rufe zu vernehmen –, er wagte erst sein selbst gewähltes Gefängnis zu verlassen, als ein lautes Rumoren durch das Schiff ging und das Brummen der Generatoren übertönte.
Durch eines der drei Bullaugen, die von außen mit Ölfarbe bemalt waren, konnte er schemenhaft erkennen, dass sich die Lichter der Hafenmole bewegten. Das ist doch nicht möglich, schoss es Gregor durch den Kopf. Jiménez hatte beteuert, das Schiff würde erst am Morgen ablegen. Vergebens kratzte Gropius an den bemalten Scheiben. Die Bullaugen waren nicht zu öffnen. Er saß in der Falle!
Auf dem Gang wurden Stimmen laut. Was sollte er tun? Damit er, falls er jemandem über den Weg liefe, nicht sofort als blinder Passagier enttarnt würde, entledigte sich Gropius seiner Kleidung und zog eine weiße Hose und eine kittelartige weiße Jacke an, die in der Wäschekammer dutzendweise zur Auswahl standen. Dann öffnete er die Tür einen Spalt und spähte auf den Gang.
Gropius hatte sich keine Gedanken gemacht, wie er reagieren sollte, falls er jemandem begegnete. Er wusste nur: Er wollte von Bord dieses verdammten Schiffes!
Atemlos, vorsichtig nach allen Seiten spähend, gelangte er über eine schmale Holztreppe an Deck. Zum Glück lag das Vorderdeck im Halbdunkel. Im Schutz der Kajüte versuchte sich Gropius zu orientieren. Das Schiff hatte sich bereits rund fünfhundert Meter von der Mole entfernt und nahm Kurs in südlicher Richtung. Unter anderen Umständen hätte er den Anblick, der sich ihm bot, die beleuchteten Schiffe, die Lichter der Uferpromenade, genossen, aber jetzt hatte Gropius kein Auge für das abendliche Panorama der Stadt. Er zögerte, ob er den Sprung ins Wasser wagen und an Land schwimmen sollte, doch als er sich über die Reling beugte und die gurgelnde Bugwelle betrachtete, verwarf er den Gedanken.
Wie benommen, unfähig einen Entschluss zu fassen, taumelte Gropius an der Reling entlang in Richtung Achterdeck. Mittschiffs, unmittelbar hinter der Kommandobrücke, strahlten die Fenster einer Kajüte in hellem Licht. In geduckter Haltung kroch Gregor unterhalb der Brüstung entlang und gelangte unbemerkt auf das Achterdeck, wo er sich auf einer Rolle armdicker Taue niederließ. Verzweifelt vergrub er sein Gesicht in den Händen.
Du hast schon andere aussichtslose Situationen gemeistert, versuchte sich Gropius einzureden; aber es blieb bei dem Versuch. In Wahrheit hatte er furchtbare Angst, so wie damals auf dem einsamen Gehöft bei Asti. Er konnte sich leicht ausmalen, wie die Leute mit ihm umgehen würden. Und die Entsorgung einer Leiche war nirgends einfacher als auf hoher See.
Gropius hatte nicht die geringste Ahnung, wohin die ›In Nomine Domini‹ steuerte, und eigentlich konnte ihm das auch egal sein. Da hörte er aus dem Inneren der Kajüte einen Schrei. Im Schutz eines der Rettungsboote schlich Gregor sich in die Nähe der Kajütenfenster und spähte ins Innere.
Was er sah, hatte etwas Gespenstisches: Auf einer Art Thron mit hoher Lehne saß ein grauenhaft entstellter Mann in weißen Kleidern. Sein Gesicht war von Narben und verbrannter Haut bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sein Gewand glich einer Soutane und war vom Hals bis zu den Füßen durchgeknöpft. In geringer Entfernung
Weitere Kostenlose Bücher