Die Akte Golgatha
kniete auf einem Holzschemel eine halbnackte, erbärmliche Gestalt, deren Oberkörper von Striemen und blutigen Wunden gezeichnet war. Der Mann trug Handschellen. Ein Kerl in schwarzer Kleidung schlug mit einer kurzstieligen Peitsche, an der eiserne Sterne befestigt waren, auf den Bedauernswerten ein. Das geschah ohne sichtbare Aggression, so, als wären alle an dem grausamen Schauspiel Beteiligten damit einverstanden.
Nach einigen Minuten endete die Folter mit einer seltsamen Geste: Der Weißgekleidete erhob sich und beschrieb mit der Rechten ein segnendes Kreuzzeichen; dann führte der schwarz gekleidete Folterknecht sein Opfer aus der Kajüte. Dabei wandte der kleine untersetzte Mann Gropius das Gesicht zu, und auch wenn ihm die langen, dunklen Haare in Strähnen ins Gesicht hingen, erkannte er ihn sofort: Ramón Rodriguez.
Gropius rang nach Luft. Er fühlte sich hundeelend. Rodriguez! Er hatte den Kerl bisher für gefährlich gehalten, jetzt tat er ihm Leid.
Die Lichter am Horizont waren längst verschwunden, und die ›In Nomine Domini‹ fuhr nur noch mit halber Kraft. Gropius überlegte sich, wie er die Nacht verbringen sollte. Die vorderen Rettungsboote – es gab insgesamt zehn an Bord – erschienen ihm am sichersten, und Gregor begann am ersten Boot die Verschnürung der Persenning zu lösen. Die Chance, in einem der Rettungsboote entdeckt zu werden, war gering, jedenfalls weit geringer als wenn er die Nacht irgendwo unter Deck verbrachte. Morgen, dachte Gropius, morgen werde ich weitersehen.
Die harten Holzplanken des Rettungsbootes hinderten Gropius am Einschlafen. Hinzu kam die Unsicherheit, wie diese Leute mit einem blinden Passagier verfahren würden, wenn sie ihn fanden. Und wenn sie erst merkten, wer sich bei ihnen eingeschlichen hatte, dann – dachte Gropius –, war sein Leben keinen Pfifferling mehr wert.
Seine Kleidung! Während er unruhig vor sich hin döste, kamen ihm seine alten Klamotten in den Sinn, die er in der Wäschekammer zurückgelassen hatte. Wenn sie gefunden wurden, würde das zweifellos eine Suchaktion zur Folge haben. Er musste sie holen.
Die Kajüte, in der er das grausame Schauspiel beobachtet hatte, lag jetzt im Dunkel. Gropius schlich auf demselben Weg, den er gekommen war, zurück ins Unterdeck. In der Wäschekammer fand er seine Kleider noch an derselben Stelle, wo er sie abgelegt hatte. Eilig rollte er sie zu einem Bündel und machte sich auf den Rückweg, als er aus der Tür gegenüber klagende Laute vernahm. Entgegen jeder Vernunft öffnete er die schmale Tür einen Spalt und lugte ins Innere. Grelles Licht traf ihn.
Anders als der spärlich beleuchtete Korridor, war die Zelle, die sich vor ihm auftat, taghell erleuchtet. Auf dem Boden saß wimmernd, mit dem Rücken an die blutverschmierte Kabinenwand gelehnt, Ramón Rodriguez. Sein rechter Fuß war angekettet. Die schwere Eisenkette gewährte ihm kaum zwei Meter Bewegungsfreiheit. Gropius schloss die Tür hinter sich.
Rodriguez warf Gropius einen apathischen Blick zu, dann starrte er wieder vor sich hin. Ein Plastikeimer in der Ecke verbreitete entsetzlichen Gestank. In einer Schüssel auf dem Boden lag altes Brot.
»Sie hätte ich hier zuallerletzt erwartet«, stöhnte Rodriguez plötzlich und ohne aufzublicken. Seine Stimme klang geschwächt. »Wie kommen Sie auf das Schiff?«
Gropius überging die Frage und erwiderte: »Was wird hier eigentlich gespielt? Warum tut man Ihnen das an?«
»Sie werden mich töten«, stammelte der Mann, »morgen, übermorgen, wenn ich bis dahin nicht schon krepiert bin!«
Über Rodriguez' Oberkörper rann ein klebriges Gemisch aus Schweiß und Blut. Mit dem Unterarm wischte er sich über die Augen. Dann fuhr er leise fort: »Ich habe es nicht freiwillig getan, müssen Sie wissen. Aber als ich merkte, was hier gespielt wird, war es zu spät.«
»Was haben Sie nicht freiwillig getan?«, erkundigte sich Gropius vorsichtig.
»Ich habe Sie nicht freiwillig Tag und Nacht beschattet. Es war ein Auftrag von höchster Stelle, verstehen Sie. Und wenn du einmal diesem Orden angehörst, gibt es kein Zurück. Du bekommst einen Auftrag, und wenn du dich nicht an die Regeln hältst, hast du dein Leben verspielt.«
»Von welchem Orden sprechen Sie?«
»Vom Orden ›In Nomine Domini‹, IND, haben Sie das nicht gewusst?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Wie sind Sie dann hierher gekommen, Sie sind doch Professor Gropius?« Rodriguez hob müde den Kopf.
»Ja, bin ich. Aber Ihre Frage zu
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