Die Akte Golgatha
früher ein kluger Kopf gewesen sein; aber seit dem Unfall zeigt er deutliche Anzeichen von Wahnsinn. Er wünscht als Ordensgründer mit ›Eure Heiligkeit‹ angesprochen zu werden. Früher soll Mazara ein aufgeschlossener, liberaler Mann gewesen sein; inzwischen hat sich sein Charakter ins Gegenteil verkehrt. Seine Heiligkeit ist zu einem Erzkonservativen, zu einem Reaktionär, zu einem Sadisten geworden. Er gibt vor, sündige Priester bei sich aufzunehmen und auf den rechten Weg zurückzuführen. In Wahrheit missbraucht er sie für seine niedrigen Instinkte und lässt ›im Namen des Herrn‹ quälen und morden.«
»Sündige Priester? Das müssen Sie mir erklären.«
Rodriguez hob die Schultern. »Leute wie ich. Ich war Landpfarrer in einem Dorf nahe Granolers, bis eine Lehrerin meinen Weg kreuzte, ein anmutiges, göttliches Geschöpf, voll Zuneigung und Liebe in der großen Brust, Sie verstehen. Ich wollte nicht von ihr lassen, und daraufhin setzte ein gnadenloser Automatismus ein, der mit Berufsverbot endete. Wovon soll ein seines Amtes enthobener Priester leben?«
»Ich verstehe. Und später fielen Sie bei ›Seiner Heiligkeit‹ in Ungnade.«
»So war es. Als ich Francesca Colella zum ersten Mal sah, fühlte ich mich an meine große Liebe erinnert. Sie hatte mich längst verlassen, und Signora Colella war ihr genaues Ebenbild. Unbeholfen versuchte ich ihr den Hof zu machen; aber es misslang. Ich betrank mich und musste von meinen Mitbrüdern zur Räson gebracht werden. Mazara duldet keine Auswüchse. Er betrachtet das Leben als Buße.«
»Buße wofür?«
»Für die Sündhaftigkeit des Menschen. Der Mensch, sagt Mazara, sei nicht zu seinem Vergnügen auf der Welt, sondern um Gottes Willen zu erfüllen. Es entspreche nicht dem Willen Gottes, das Leben zu genießen. Das Leben des Menschen künstlich zu verlängern sei ein Verbrechen. Einem jeden sei bestimmt, wann seine Stunde gekommen ist. Deshalb lehnt er Bluttransfusionen, Organtransplantationen und Leben verlängernde Maßnahmen ab. Das alles, sagt Mazara, sei eine Missachtung des Willens Gottes.«
»Dann haben Sie auch Francescas Mann Constantino auf dem Gewissen?«
»Nicht ich persönlich, aber der Orden ›In Nomine Domini‹.«
»Und Sheba Yadin?«
»Sie wollte den Orden mit dem Wissen, das Schlesinger ihr anvertraut hat, erpressen. Das war mit de Luca nicht anders.«
Gropius schwieg in sprachlosem Zorn. Nach einer Weile sagte er: »Und Arno Schlesinger? Wer hat ihn getötet?«
»Ja, dieser Schlesinger! Er entging dem Anschlag in Jerusalem nur knapp. Vielleicht sollte er dabei auch gar nicht sterben. Dem Vatikan ging es in erster Linie darum, die sterblichen Überreste unseres Herrn Jesus zu beseitigen.«
»Dem Vatikan? Wollen Sie damit sagen, nicht Ihre Organisation, sondern der Vatikan hat den Anschlag in Jerusalem verübt?«
»So ist es. Sie dürfen nicht alle Schlechtigkeiten dieser Welt dem Orden ›In Nomine Domini‹ in die Schuhe schieben. Es gibt genügend andere böse Menschen. Jedenfalls beauftragte Kardinalstaatssekretär Paolo Calvi beziehungsweise sein Sekretär Crucitti ein Palästinenser-Kommando, das ›Problem‹ mit Plastiksprengstoff aus der Welt zu schaffen. Ein ziemlich dummer Plan – wie sich herausstellen sollte.«
»Weil Schlesinger überlebte?«
»Nicht nur das. Woher wollte Calvi wissen, ob Schlesinger die Beweise, die er zusammengetragen hatte, nicht irgendwo hinterlegt hatte, sodass sie irgendwann öffentlich würden? Denn natürlich hatte Schlesinger längst ein paar Knochen zur Seite geschafft und sie an einem unbekannten Ort verwahrt.«
»Also haben Calvi und Crucitti letztendlich Schlesinger auf dem Gewissen?«
Rodriguez schüttelte heftig den Kopf: »Warum sollte ich lügen. Der Orden ›In Nomine Domini‹ hat inzwischen Anhänger in ganz Europa, von der römischen Kirche entlassene Priester, die ums Überleben kämpfen. Sie gehorchen Mazara blind, ohne ihn je gesehen zu haben, ohne zu wissen, wo er sich überhaupt aufhält. Um ihre Bußfertigkeit unter Beweis zu stellen, tun sie sogar Dinge, die ihnen niemand aufgetragen hat.«
Noch während er redete, sank Rodriguez kraftlos in sich zusammen. »Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe Ihnen alles gesagt.« Wie leblos, die Augen stumpf geradeaus gerichtet, starrte Rodriguez vor sich hin.
Auf dem Korridor näherten sich Schritte und entfernten sich wieder. Gropius hatte das dringende Bedürfnis, frische Luft zu atmen, und öffnete vorsichtig die
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