Die Akte Golgatha
Wahrheit verbarg sich unter der rauen Schale jedoch ein höchst sensibler Kern, jedenfalls hatte Ingram, stellvertretender Leiter des Dezernats 13, Organisierte Kriminalität, schon mehrere Sonderkommissionen geleitet und sein Gespür für komplizierte Zusammenhänge unter Beweis gestellt.
Ingram blieb wenig Zeit, sich in die Materie einzuarbeiten, und seine achtköpfige Mannschaft, durchaus fähige junge Leute, erwies sich dabei auch nicht gerade als hilfreich, dennoch schien es angebracht, schnell und präventiv zu handeln. Dazu forderte Ingram eine Hundestaffel mit sechs Tieren an, die auf die Entdeckung von Plastiksprengstoff geschult waren. Seine Leute verteilte er auf acht Abteilungen des Klinikums, wo sie Namenslisten des in den vergangenen vierundzwanzig Stunden anwesenden Personals und aller stationären Patienten erstellen sollten.
Obwohl die an eine Nebenstelle des Klinikums adressierte E-Mail Gropius eher ent lastete als be lastete, schließlich hatte er die Klinik seit mehr als einer Woche nicht mehr betreten, betrachtete Ingram den in den Transplantationsskandal verwickelten Professor als Schlüsselfigur. Sein Instinkt und seine Erfahrung bestärkten ihn in der Auffassung, dass scheinbare Zufälle bei einem Verbrechen nur selten wirkliche Zufälle sind.
Während Ingram daranging, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ein Persönlichkeitsprofil von Professor Dr. Gregor Gropius zu erstellen, eskalierte die Lage. In Crypto City im US-Staat Maryland hatte die NSA, die National Security Agency, der geheimste Geheimdienst der Welt, für den 38.000 Mitarbeiter, 120 Satelliten und über alle Kontinente verteilt Hunderte von Lauschposten in Gestalt riesiger Parabolantennen spionieren, dieselbe E-Mail mit dem Hinweis auf den Plastiksprengstoff C4 abgefangen und Alarm geschlagen. Von der zuständigen Abteilung war fünfzig Minuten später eine Mitteilung an das Counter Terrorism Center (CTC) der CIA-Zentrale in Langley, Virginia, ergangen, welche, nachdem der in der E-Mail aufgeführte Code IND nicht entschlüsselt werden konnte, mit dem Vermerk ›Dringender Handlungsbedarf‹ umgehend an den Bundesnachrichtendienst in Pullach weitergeleitet wurde.
Als der Hinweis aus Virginia beim BND einging, brüteten Experten der Abteilung 3, Auswertung, bereits über einem integrierten Lagebild, das heißt, sie versuchten alle verfügbaren Informationen zu einem, zumindest vorerst, noch löchrigen Ganzen zusammenzufügen, aus dem eine operative Basis zur Verhinderung eines Terroranschlags erstellt werden konnte.
Die wichtigste und daher auch schwierigste Frage, die sich den Experten von BND und LKA stellte, war jene nach dem Motiv. Warum sollte ausgerechnet das Klinikum, das weltweit einen hervorragenden Ruf genoss, eine Institution ohne Symbolcharakter, sieht man von der Rettung und Heilung von Menschen aller Rassen ab, warum sollte ausgerechnet diese Klinik als Ziel eines Terroranschlags vorgesehen sein?
In der Nacht hatten Sprengstoffexperten mit Hunden das Klinikum ohne Aufsehen zu erregen untersucht; allerdings mit unbefriedigendem Ergebnis, weil sich herausstellte, dass eine Klinik mit zahllosen Gerüchen behaftet ist, welche die Spürnasen der Suchhunde außer Gefecht setzen. Die Ermittler begründeten ihre Arbeit mit dem Hinweis auf den Transplantationsskandal, der ohnehin in allen Zeitungen stand, insofern war nicht zu befürchten, dass ihre Arbeit, die sich auf alle Abteilungen des Klinikums erstreckte, eine Panik auslösen würde. Von höchster Stelle war an die Beamten Weisung ergangen, das Wort ›Terroranschlag‹ nicht einmal andeutungsweise zu erwähnen.
Inzwischen wurde Professor Gropius rund um die Uhr observiert. Gropius hatte den Vorgang bereits am zweiten Tag mitbekommen. In einem Villenvorort wie Grünwald ist es für einen Mann mit durchschnittlicher Beobachtungsgabe kaum möglich, eine Observierung nicht wahrzunehmen. Im Übrigen fühlte sich der Professor von dem grauen Audi und dem beigefarbenen BMW, die sich alle sechs Stunden ablösten, weniger belästigt als andere Anwohner der Straße, denen die fremden Fahrzeuge den Parkplatz nahmen. Insofern musste er davon ausgehen, dass sein Treffen mit Veronique, möglicherweise sogar jenes mit Felicia Schlesinger, beobachtet worden war. In seiner Situation erschien Gropius die Zusammenkunft mit Veronique bedenkenlos, sein Treffen mit der Witwe Schlesingers hingegen konnte durchaus zu Irritationen führen. Und was im Verlauf der nächsten Tage
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