Die Akte Golgatha
deshalb von den Mitarbeitern anderer Abteilungen, die sich mit ›menschlichen Quellen‹ oder der Auswertung der öffentlichen Medien beschäftigten, nicht selten beneidet.
Mit seinen fünfundfünfzig Jahren zählte Meyer, von dem niemand zu sagen wusste, er habe den Chef anders als in einem grauen Fünfzigerjahre-Anzug und korrekter Krawatte gesehen, zu den Älteren in seinem Gewerbe, ein alter Hase sozusagen, dem kaum einer etwas vormachen konnte. Sein Büro im obersten Stockwerk eines Plattenbaus hatte schon bessere Zeiten gesehen, keine Spur von Hightech, ein Flachbildschirm neben dem grauen Schreibtisch war das einzige Zugeständnis an die moderne Technik. Als Meyer das Büro betrat, blinkte am unteren Rand des Bildschirms ein LED, und Meyer tippte ein Codewort in die Tastatur des Computers. Darauf tauchte auf dem Bildschirm das Wort DRINGEND auf, und eine Sekunde später erschienen folgende Zeilen:
»E-Mail 4 Uhr 37 Mobilfunk westliches Mittelmeer Großklinikum MUC. Du hast wirklich gute Arbeit geleistet, aber zweifellos ist dies nur ein erster Schritt. Also dranbleiben und letzte Spuren beseitigen. Gegebenenfalls C4 zum Einsatz bringen. IND.«
Meyer überflog den Text ein zweites Mal. Dann griff er zum Telefon, tippte eine Nummer ein und meldete sich, als die Gegenseite abhob, mit Namen. Am anderen Ende der Leitung war der Diensthabende namens Hoveller. »In Sachen E-Mail Großklinikum. Warum bekomme ich keine näheren Angaben über Absender und Zielperson?«, fragte Meyer barsch.
Der so Gemaßregelte entgegnete umständlich: »Chef, wir haben da ein Problem. Der Absender setzte die E-Mail über ein Mobiltelefon ab, und der Empfänger hängt an einer Nebenstelle des Universitätsklinikums. Ich würde sagen, da waren Profis am Werk, mit allen Wassern gewaschen.«
»Scheint so«, brummte Meyer nachdenklich. »Wie es aussieht, fanden es die Herren auch gar nicht für nötig, ihre Botschaft zu verschlüsseln. Amerikanischer Plastiksprengstoff taucht schon lange nicht mehr unter dem Codenamen C4 auf. Die feinen Herren wissen doch ganz genau, dass uns nichts von ihrer Kommunikation entgeht. Aber was in aller Welt ist IND?«
»Negativ, Chef. Code ›IND‹ ist bei uns nicht gespeichert. Unsere Texterkennungsmaschinen reagierten nur auf Code ›C4‹.«
»Das macht die Sache nicht gerade einfacher.«
»Ich weiß. Mir scheint, wir haben es dabei mit neuer Kundschaft zu tun. Entweder handelt es sich um unglaubliche Dilettanten, oder diese Herren gehen mit besonderer Raffinesse vor.«
Meyer verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, als bereiteten ihm die Gedanken über dieses Problem Schmerz. Abschließend meinte er: »Nun, diese Nuss werden wir auch knacken. Allerdings glaube ich, hier ist Eile geboten.«
Mit einer Kopie der abgefangenen E-Mail ging Meyer in die Lagebesprechung. Jeden Morgen Punkt neun trafen sich im Konferenzraum des Hauptgebäudes die Leiter der verschiedenen Abteilungen zum Briefing, um ihre jeweiligen Aktivitäten mitzuteilen und zu koordinieren.
Meyers Fund sorgte für Unruhe. Ulf Peters, 33, mit offenem Hemd und schwarzer Lederjacke – so wie man sich einen Agenten vorstellt, war trotz seiner jungen Jahre Leiter der Abteilung 5 – Operative Aufklärung und damit zuständig für diesen Fall. Nach kurzer Beratung entschied er, das Zielobjekt der Sicherheitsstufe 1 zuzuordnen, und damit nahm ein kompliziertes Verfahren seinen Lauf.
Weil der Bundesnachrichtendienst dem Kanzleramt untersteht, verständigte Peters den Kanzleramtsminister mit dem Hinweis auf Sicherheitsstufe 1 und der gleichzeitigen Einschränkung, dass nähere Erkenntnisse noch nicht vorlägen. Durch das Zielobjekt Großklinikum sensibilisiert, gab das Kanzleramt die Meldung an das Bayerische Innenministerium weiter, das seinerseits das Landeskriminalamt einschaltete.
Im Landeskriminalamt war inzwischen der Transplantationsskandal im Klinikum aktenkundig, sodass sich der Verdacht, zwischen dem mysteriösen Tod Schlesingers und der nicht minder mysteriösen E-Mail könnte ein Zusammenhang bestehen, zwar nicht aufdrängte, aber auch nicht ausgeschlossen werden konnte. Nach kurzer Beratung des Bayerischen Innenministers und des Leiters des Landeskriminalamts wurde vereinbart, eine achtköpfige Sonderkommission einzuberufen, Leiter Wolf Ingram, ein Mann wie ein Kleiderschrank mit breitem Schädel und kurz geschorenen dunklen Haaren. Von Statur und Auftreten war man geneigt, Ingram als Mann fürs Grobe einzuschätzen, in
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