Die Akte Golgatha
Von einem Augenblick auf den anderen hatte sich zwischen ihnen eine unsichtbare Wand des Misstrauens aufgebaut. Schließlich ergriff Signora Colella die Initiative, sie griff zum Telefon und reichte Gropius den Hörer: »Dann rufen Sie Ihren cognato einfach an!«
Gropius nickte. Jetzt ging es darum, Zeit zu gewinnen. In seiner Bedrängnis kam ihm eine Idee: Er tippte seine eigene Nummer ins Telefon und wartete scheinbar geduldig. Nach einer Weile bemerkte er: »Tut mir Leid, es meldet sich niemand.« Inzwischen hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, und er sagte: »Ich schlage vor, wir verschieben unseren Deal auf morgen. Bis dahin weiß ich den Code zum Öffnen des Schlosses, und ich werde noch einmal mit Professore de Luca Kontakt aufnehmen wegen des Preises.«
Mit gespitztem Mund und einem Blick zur Decke, als bereite ihr das eben Gesagte Kopfzerbrechen, erwiderte Francesca Colella: »Das ist zwar gegen die Abmachungen, andererseits sehe ich momentan keine andere Möglichkeit.«
»Sie wohnen in einem anderen Hotel?«, erkundigte sich Gropius vorsichtig.
Die Italienerin nickte mit dem Kopf und lächelte: »Ein Hotel wie dieses übersteigt den Spesenetat eines Wertkuriers bei weitem! Bitte haben Sie Verständnis, wenn ich Ihnen den Namen meines Hotels verschweige. Aus Sicherheitsgründen, Sie verstehen.«
Durchaus professionell, dachte Gropius und beobachtete, wie die Signora die Kassette in den Aktenkoffer einschloss und diesen an ihrem Handgelenk befestigte. »Dann darf ich Sie wohl heute Abend auch nicht einladen – aus Sicherheitsgründen? Es wäre mir ein Vergnügen …«
»Natürlich nicht!«, entrüstete sich Francesca Colella. »So etwas ist uns strikt untersagt.«
Sie sagte es so, als hätte er ihr einen unsittlichen Antrag gemacht, dabei hatte er wirklich nur an ein nettes Essen gedacht. Gewiss, die Italienerin hatte jene geheimnisvolle, strenge Ausstrahlung, die bei einem Mann niedrigste Instinkte auslöst, aber Gropius war klug genug, zu wissen, dass solche Frauen ihre Rolle meist nicht spielen, sondern leben. Und was die gestrenge Signora Colella betraf, so schlief sie sicher mit ihrem Koffer am Handgelenk.
»Dann bleibt mir nur, Ihnen einen angenehmen Abend zu wünschen«, sagte er, bevor sie sich für den folgenden Tag – aus Sicherheitsgründen – in einem Lokal, dessen Adresse Francesca auf ein Blatt Papier kritzelte, verabredeten.
Die Lust auf Oper war Gregor Gropius vergangen. Nicht einmal das Kabarett im Europacenter, das er bei keinem Berlinbesuch ausließ, konnte ihn aus seinem Hotelzimmer locken. Stattdessen rief er Felicia Schlesinger an, um sie über den Fortgang der Dinge zu informieren.
Aus dem Hotel war Felicia inzwischen wieder ausgezogen, er erreichte sie in ihrem Haus am Tegernsee. Felicia war aufgebracht und den Tränen nahe. Wolf Ingram, der Leiter der Sonderkommission, hatte das Haus mit einer achtköpfigen Mannschaft auf den Kopf gestellt, jeden kleinsten Winkel durchsucht, sogar die Badezimmer und den Heizungskeller. Arnos Arbeitszimmer gleiche einem Schlachtfeld: Bücher, Akten, lose Blätter und durchwühlte Kartons. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass neun erwachsene Männer sich so aufführen können. Dabei habe sie der Durchsuchung ausdrücklich zugestimmt, nachdem Ingram sie davon überzeugt hatte, dass der Bombenattentäter weder ihr noch Gropius nach dem Leben trachtete, sein Ziel sei es vielmehr gewesen, das Haus in die Luft zu jagen, weil er darin irgendwelche Spuren oder Beweismittel eines anderen Verbrechens vermutete. Weder die eine noch die andere Erkenntnis habe etwas Beruhigendes an sich. Nach neun Stunden seien sie mit fünf Kisten – in der Hauptsache Akten und Archivmaterial aus Arnos Arbeitszimmer – abgezogen, eine Quittung über 74 Einzelposten hinterlassend. Sie könne sich freilich nicht vorstellen, dass in den Papieren irgendein Hinweis auf Schlesingers Ermordung zu finden sein sollte. Ob er selbst einen Erfolg zu vermelden habe, beendete sie ihren Redefluss.
Felicia glaubte, Gropius wolle sie auf den Arm nehmen, als er sagte, einen möglichen Erfolg habe nur die Tatsache verhindert, dass er Schlesingers Geburtsdatum nicht kannte. Und dann berichtete er, was sich an diesem Tag zugetragen hatte, von dem geheimnisvollen Kurier weiblichen Geschlechts und dem Metallbehälter, dessen Zahlenschloss sich nur mithilfe von Schlesingers Geburtsdatum öffnen ließ. Zwar fehle ihm jeder weitere Hinweis, doch hege er einen Verdacht:
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