Die Akte Kachelmann
Sender, Küblböcks Unfall sei erwiesen.
Auf Teletext liest Sonja A., dass Kachelmann sie verklagen wolle wegen Falschbeschuldigung. Sie fürchtet, so hält sie in ihrem Laptop fest, dass alle ihm glauben und keiner ihr. Wenn die wüssten, schreibt sie, was für ein gestörter Psychofreak er ist. Ihr, die so stark sein wollte, scheint alles zu viel geworden zu sein. Morgen wird sie tun, wogegen sie sich innerlich lange gewehrt hat. Sie wird tun, wozu ihr Polizei, ihr Anwalt und auch Rechtsmediziner Mattern geratenhätten: Sonja A. begibt sich in Psychotherapie, zum Trauma-experten Professor Günter Seidler in die Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik der Universität Heidelberg.
In der Nacht erhalten die Kölner Anwälte ein kurzes Schreiben aus British Columbia. Die wenigen Zeilen, verfasst von der Exfrau Jörg Kachelmanns, wird die Verteidigung der Staatsanwaltschaft vorlegen. Mit Jörg sei sie über zehn Jahre befreundet und zwei Jahre verheiratet gewesen, heißt es. Es sei eine Scheidung gefolgt mit großem Streit. Seit drei Monaten erst, schreibt die Schweizerin aus dem 500-Seelen-Nest Brigde Lake, seien sie geschieden. Nun sei die Beziehung wieder freundlich. Ihr Ex-Mann habe nie körperliche Gewalt gegen sie angewendet. Sie könne sich nicht im Geringsten vorstellen, heißt es weiter, dass er einem menschlichen oder tierischen Wesen etwas antun könnte.
Die zweite geschiedene Gattin Jörg Kachelmanns bittet Strafverteidiger Birkenstock am Schluss, er solle in der JVA Grüße ausrichten von ihr und den beiden Söhnen. Sie würden an Jörg Kachelmann denken und hoffen, dass sich die große Lüge bald aufklären werde.
Am Dienstagmorgen in aller Früh wendet sich eine Frau vom Zürichsee an Jörg Kachelmanns Umfeld. Heidi T. hat aus den Medien erfahren, dass ihr Freund in U-Haft sitzt. Verzweifelt hat sie herumtelefoniert – auch mit Jörg Kachelmanns Mutter in Schaffhausen. Die Schweizerin wird den Beschuldigten später mit Aussagen in Schwierigkeiten bringen. Doch jetzt verteidigt sie ihn und findet, das Ganze sei ungeheuerlich und der Vorwurf absurd. Sie kenne Jörg – und er verhalte sich genau gegenteilig zu dem, was ihm vorgeworfen werde. Nach Streit sei Sex so ziemlich das Letzte, was er wolle. Jörg sei einer der am wenigsten gewalttätigen Menschen, die sie kenne.
Das Amtsgericht Mannheim wird an diesem Dienstagmorgen ebenfalls kontaktiert, von einer Berlinerin: Sie habe früher eine Affäremit Jörg Kachelmann gehabt – vor rund zehn Jahren. Sie hoffe, dass die Frau – gemeint ist Sonja A. – zu ihrem Recht komme. Die Behörden versuchen zu klären, was ihre kryptische Botschaft bedeutet, der Erfolgsverwöhnte akzeptiere es nicht, wenn man ihm sage, er solle aufhören. Die Berlinerin hinterlässt keine Kontaktadresse, aber sie bittet die Behörden, sich von Kachelmanns Anwalt nicht einschüchtern zu lassen.
In der Medienhölle
Im hintersten Winkel des Appenzellerlands, im kleinen Kurort Weissbad, steht ein knorriges Gehöft. Am mit braunen Schindeln gedeckten Bauernhaus mit angebauter Scheune lehnt eine rote Schneeschaufel. Sie wird nicht mehr gebraucht, denn Ende März grünt es auch hier oben in 900 Metern Höhe, wo das Alpsteingebirge anfängt und die Skiabfahrt vom Säntis endet. Es ist auch niemand da, der die Schaufel brauchen könnte. Die Bewohnerin hat ihr Häuschen verlassen, als Journalisten sie heimsuchen. Und ihr Partner ist inhaftiert.
Und so rasen ein Reporter des Klatschhefts «Superillu» und einer der ein bisschen gediegeneren «Bunte» am 23. März 2010 vergeblich vom Bodensee südwärts in die Hügel. Sie kurven umsonst durch die Appenzeller Streusiedlungen, in denen jeder Hof einsam mitten im bewirtschafteten Land steht.
Falls die Reporter während ihrer kurzfristig anberaumten Schweizreise Zeit zum Zeitung lesen finden, können sie sehen, dass die hiesige Presse die Wettermetaphern hervorgekramt hat. «Wetterfrosch im Tornado», «Sturmtief über Kachelmann» oder «König der Frösche» lauten die Überschriften am Tag, nachdem die Verhaftung des nun sicherlich berühmtesten Schweizers in Deutschland bekannt wurde. Auch der eine oder andere deutsche Journalist hat sich die Schadenfreude nicht verkneifen können über den Fall des «Herrn der Blumenkohlwolken», des «Strebers mit Herz», des «Hansdampfs», des «Regen-Rilkes».
Häftling H 08 1008 100 553 scheint von der medialen Häme wenig mitzubekommen. «Es gibt zwei Privilegien im Knast, die
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