Die Akte Kachelmann
angerichtet haben soll.
Dann veröffentlicht «Focus» praktisch alle Ermittlungsergebnisse. Das Nachrichtenmagazin, so wird die Verteidigung bald argwöhnen, sei «das Sprachorgan der Staatsanwaltschaft Mannheim».
Elf Sekunden
Am Ende von Tag vier nach der Verhaftung Jörg Kachelmanns wird die Mutter von Sonja A. Narzissen vor ihrer Haustür finden. Hingestellt hat das Töpfchen mit den gelben Frühlingsblumen eine sogenannte «Witwenschüttlerin».
Für Jörg Kachelmann ist dieser Mittwoch, dieser 24. März 2010, der einzige Tag in über vier Monaten Untersuchungshaft, an dem er die Justizvollzugsanstalt verlassen darf. Er hat sich rasiert, zieht Jeans an, eines seiner Lieblings-T-Shirts, schwarzweiß gestreift, eine etwas zu weite schwarze Lederjacke und dunkle Halbschuhe. Diese Kleidung, das etwas vollere Gesicht, und das Haar, das frisch gewaschen in den Nacken fällt – all dies wird die öffentliche Wahrnehmung des inzwischen bekanntesten Häftlings Deutschlands prägen. Aber Gedanken werden sich viele machen, weshalb sie die Wangen-, Kinn- und Halspartien erstmals seit Urzeiten glatt zu sehen bekommen. Fast in jeder Zeitung wird stehen, dass der Bart weg ist. Mancher Journalist vermisst auch den «Fussel» oder das «flaumartige Gekräusel».
So wird Jörg Kachelmann am Nachmittag vor die Kameras treten. Und bald wird die Aussagepsychologin Luise Greuel – mit Vorbehalten – mutmaßen, er sei ein ausgeprägter Narzisst. Der Absolvent der Kantonsschule Schaffhausen gab sich stets stolzer auf sein Großes Latinum als auf sein Aussehen. Nach der Haftentlassung, schlanker und smarter wirkend, wird er öffentlich erwidern, er kenne die Sage von Narcissus. Er bezieht dabei den Mythos vom Schönling – anders als Greuel – ausschließlich auf Äußerlichkeiten. «Der Jüngling hat sich in sein Spiegelbild verliebt, als er in einen Fluss geschaut hat», wird er zum Nachrichtenmagazin «Spiegel» sagen.«Das ist schon seltsam, so etwas auf mich anzuwenden. Die Hauptzuschriften, die ich in all meinen Fernsehjahren bekommen habe, lauteten in etwa so: ‹Sie sehen so scheiße aus, Sie sollten nicht im Fernsehen auftreten›.»
In der Verpackung der Narzissen vor dem Einfamilienhaus im Kleinen Feld wird ein Zettelchen liegen. «Mein herzliches Beileid, Frau A.!», steht da in Schulmädchenschrift, «falls Sie doch noch reden wollen, um die Geschichte richtig zu erklären, hier meine Nummer.» Es folgen eine Handynummer, «herzliche Grüße», eine Unterschrift und ein PS: «Und ganz viel Kraft für Ihre Tochter.»
Jörg Kachelmann steigt früh morgens in ein Zivilfahrzeug ein. Die Fahrt, organisiert von Staatsanwalt Oltrogge und Gefängnisdirektor Schüssler, soll geheim bleiben. Der Plan geht auf. Keine Viertelstunde und fünf Kilometer später kommt der Wagen im Amtsgericht Mannheim an – unbemerkt von Fotografen und Fernsehleuten, die bereits mit Kameras warten. Es ist jetzt 7.15 Uhr.
Heute ist der Haftprüfungstermin, notiert Sonja A. in ihr «warum. doc». Sie hoffe so sehr, dass er nicht freikommt.
Jörg Kachelmann wird in den Verwahrraum des Amtsgerichts geführt. Er unterzeichnet eine Freiwilligkeitserklärung und gibt eine Speichelprobe ab. Auch werden ihm einige wenige Haare abgenommen, die untersucht werden sollen.
Um 10.30 Uhr beginnt die «Vernehmung nach Ergreifung», so heißt es im Protokoll, und zum Auftakt redet nur der Beschuldigte. «Ich möchte vorausschicken», fängt er an, «dass ich schwöre, bei allem, was mir heilig ist, dass die Vorwürfe haltlos sind. Ich habe weder ein Messer berührt, habe keine Vergewaltigung gemacht. Das ist haltlos und falsch.»
Ein Schwur, und ist er noch so eindringlich, hinterlässt bei der Justiz oft wenig Eindruck. Zu oft logen gerade jene, die ihre Wahrheitsliebe am meisten beteuerten. Doch erfahrene Richter und Staatsanwälte wissen auch: Einem Eid muss nicht zwingend eine Lüge folgen.
Die Mutter von Sonja A. bringt den Müll raus. Eine junge Frau mit braunen Locken, mittlere Statur, hat sie abgepasst und spricht sie an. Ob sie Frau A. sei, will die vielleicht 30-Jährige wissen, die sich als Mitarbeiterin einer Zeitung aus Zürich vorstellt. Die Mutter bejaht.
Bei der Mülltonne fragt die Journalistin sie, ob ihre Tochter da sei. Nein, antwortet die ältere Dame einsilbig, die ist in der Klinik.
Das Redetempo des Moderators ist zu hoch. Jörg Kachelmann muss es drosseln, damit die Protokollantin mitkommt. Gegen 23 Uhr sei er in Schwetzingen
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