Die Akte Kachelmann
ist überrascht, denn alle Beteiligten haben in einem Gentlemen’s Argeement vereinbart, sich nicht zu den Vorwürfen zu äußern. Thomas Franz und die Staatsanwaltschaft haben der Verteidigung gegenüber ebenfalls bekundet, was die Kölner Anwälte und Meteomedia öffentlich erklärt haben: Sie würden «nicht der Unsitte folgen, nun eine mediale Schlammschlacht zu beginnen, denn hierunter würden alle Beteiligten nur noch zusätzlich zu leiden haben».
Nach dem Anruf der «Kerner»-Redaktion meldet sich Höcker umgehend bei Franz, der sich ebenfalls erstaunt zeigt über das, was er zu hören bekommt. Johannes B. Kerners Leute, so sagt Franz, hätten ihm gegenüber behauptet, Höcker und Birkenstock säßen ganz sicher in ihrer Diskussionsrunde. Schließlich geht keiner hin. Das Stillhalteabkommen hält vorerst. So bleibt die Informationslage eine Woche lang dünn, äußerst dünn.
Die Presse hat – abgesehen von der Autogrammkarte – auch keine brauchbaren Bilder von der bekanntesten Unbekannten Deutschlands. Deshalb belagern eine Woche nach der Verhaftung Jörg Kachelmanns noch immer zwei Paparazzi das Haus, in dem Sonja A. lebt. Einer wartet vorne, der andere hinten. Die Fotografen auf der Lauer sind sich nicht sicher, ob ihre Gesuchte überhaupt da ist – bis Rechtsanwalt Thomas Franz vorfährt. Er steigt aus dem Auto, hat einen Umschlag in der Hand, klingelt und wird reingelassen. Nun wissen die Wartenden: Sonja A. ist da. Kurze Zeit später kommt Franz wieder raus, ohne Umschlag.
Plötzlich erscheint Sonja A. Sie macht ein paar Schritte. Erblickt die Paparazzi. Spurtet los. Der eine Fotograf drückt ab. Der andere heftet sich an ihre Fersen. Beide sehen, wie die frühere Leichtathletin direkten Kurs nimmt auf einen Zaun. Mit einem Satz steht sie imGarten des Nachbarhauses, in dem ihre Eltern wohnen. Sie klopft aufgeregt an eine Glastür. «Wir können doch vernünftig reden», ruft ihr, hinter dem Zaun stehend, der Mann nach, der sie verfolgt hat. Doch Sonja A. will nichts davon wissen. Sie hämmert gegen die Glastür. Nach bangen Sekunden wird sie reingelassen. Die Bilder ihrer Flucht vor den Kameras erscheinen nie.
Hingegen publiziert die «Bild»-Zeitung Fotos, die ein Mitarbeiter zwölf Kilometer entfernt gemacht hat. Aus einem Küchenfenster im zweiten Stock eines Nachbarhauses der Justizvollzugsanstalt Mannheim hat der Fotograf mit einem Riesenteleobjektiv einen Untersuchungshäftling beim Hofgang herangezoomt. Das Gesicht des Braunhaarigen mit dem rotschwarz karierten Hemd bleibt unscharf, doch die aufmerksame Leserschaft des Boulevardblatts weiß: Das ist Kachelmann! Er trägt dasselbe Hemd wie bei der Verhaftung! Wieso Millionen das wissen? «Bild» hat bereits den sogenannten «Mugshot» veröffentlicht, das Polizeifoto mit dem übermüdeten Festgenommenen.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt leitet eine Untersuchung ein, weil die Aufnahme nur auf illegalem Weg aus der erkennungsdienstlichen Kartei in die Redaktion gelangt sein kann. Und Höcker erwirkt eine einstweilige Verfügung gegen die Veröffentlichung der Fotos, die über die Gefängnismauern geschossen wurden. Doch «Bild» will juristisch nicht klein beigeben. Es kommt zu einem Rechtsstreit, der sich über Monate hinzieht. «Bild am Sonntag» veröffentlicht auch einen Schnappschuss mit einem schemenhaften Kachelmann beim Joggen in der JVA. Und «Bild» titelt kurz darauf: «16 Grad, Wind von Nordost: Jörg Kachelmann genießt die Sonne im Gefängnishof». Zu sehen ist, leicht unscharf, wie eine dunkel gekleidete Figur in einem umzäunten Bereich herumsteht und zwei Männern beim Schachspielen zuguckt.
Höcker will vom Springer-Verlag, der «Bild» und «Bild am Sonntag» herausgibt, Schadenersatz verlangen, der sich auf 2,25 Millionen Euro summieren soll. Im Sommer, vielleicht als Reaktion auf die Klageankündigung, wird Deutschlands meistangeguckte Zeitungjene Frau als «Prozess-Kolumnistin» verpflichten, die zur ärgsten schreibenden Widersacherin des Wettermanns geworden ist: Alice Schwarzer. Die Feministin hat sich mehr oder weniger überzeugt gezeigt, dass Jörg Kachelmann etwas verbrochen hat – wenn nicht strafrechtlich, dann sicher moralisch. «Bild»-Chefredakteur Kai Dieckmann wird sich rühmen, persönlich die glorreiche Idee zur Beschäftigung Schwarzers gehabt zu haben.
Eine Woche nach der Verhaftung Jörg Kachelmanns, trotz einer beispiellosen Treibjagd, ist unklar, was genau der Schaffhauser in Schwetzingen
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