Die Akte Kachelmann
sicher, kam fast rein und fein säuberlich verpackt im Landeskriminalamt in Stuttgart an. Nur an der Mitte der Schneide hat der Diplombiologe vom LKA eine winzige Spur sichern können: einen Blutrest. Die Menge ist so minimal, dass der Spezialist nicht feststellen kann, ob sie von einem Menschen stammt oder von einem Tier. Nachweisen können sie im Blutspürchen aber mit großer Wahrscheinlichkeit Erbgut von Sonja A. Denkbar bleiben viele Varianten, wie es an die Klinge gelangt ist: Vielleicht ist Sonja A. bei der Vergewaltigung verletzt worden, vielleicht hat sie mit dem Messer rohes Fleisch geschnitten, vielleicht war es ganz anders.
Beim Psychotherapeuten schlägt Sonja A. immer wieder die Hände vors Gesicht. Sie sagt, Jörg Kachelmann habe ihr das Messer die ganze Zeit an den Hals gehalten. Dann aber müssten wohl nach aller kriminalistischer Erfahrung viele Spuren des Opfers an der Klingezu finden sein und deutlichere Spuren eines Täters am Griff – sofern das Messer nicht abgewischt worden ist. Feinsäuberlich gereinigt, gar gespült worden ist es kaum. Dafür ist es nicht sauber genug.
Im Vernehmungszimmer erkundigt sich Staatsanwalt Oltrogge nochmals nach dem Tampon, zu dem noch keine brauchbare DNA-Analyse vorliegt. «In der Spontaneität würde ich sagen, nein, da war kein Tampon», antwortet Jörg Kachelmann, doch auch hier relativiert er. «Aber meine Erinnerung ist nicht so gut, dass ich es hundertprozentig ausschließen kann.»
Dem Beschuldigten werden Bilder der Hämatome von Sonja A. vorgelegt. Jörg Kachelmann betrachtet die bläulichvioletten Flecken innen an den Oberschenkeln seiner Exgeliebten, groß wie zwei Orangen. Er sagt, die Verletzungen seien «nicht mit mir oder meinem Aufenthalt zu erklären». Auch zu den Aufnahmen zwei Tage später, als das Blut unter der Haut dunkler geworden ist, erklärt er nur: «Ich habe auch nichts getan, was später zu so etwas hätte führen können.»
Bei der Mutter von Sonja A. klingelt das Telefon. Dran ist die Zürcher Journalistin von der Mülltonne. Ihr tue alles unheimlich leid, sagt die Anruferin. Sie sei gerade an einem Blumenladen vorbeigekommen, habe etwas für sie gekauft und stünde jetzt mit dem Geschenk vor der Haustür.
Sonja A., betont Jörg Kachelmann in seiner Aussage, habe seine Mutter nie kennengelernt. Er habe ihre Eltern «wenige Mal» gesehen, vor allem weil sie in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten. «Ich habe», erklärt der Verdächtige, «ein Mal für rund eine Stunde, weil ich gerade auf Durchreise war, Platz genommen an einer Familienfeier, an deren Ursache ich mich aber nicht mehr erinnern kann.»
Jörg Kachelmann – so hatte die 70-jährige Frau A. auf der Schwetzinger Polizeidienststelle bezeugt – sei am 60. Geburtstag ihres Mannesdabei gewesen. Ab und zu sei er bei ihnen gewesen, im vergangenen Jahr allerdings nicht mehr.
Jörg Kachelmann schildert im Amtsgericht, wie Sonja A. ihn gebeten habe, ihren Eltern nicht zu sagen, dass er Kinder habe. Einmal habe er Sonja A. für eine knappe Woche nach Oklahoma mitgenommen, «was aber», so seine Erinnerung, «für beide Seiten ein eher frustrierendes Erlebnis war, weshalb es auch sonst keine Urlaube oder ganze Wochenenden in meiner Erinnerung gab».
In Oklahoma, dem US-Bundesstaat der meteorologischen Extreme, bewohnte Jörg Kachelmann zeitweise ein Häuschen. Vom Nest Omega aus, das fünfeinhalb Meilen westlich von Alpha liegt, wolle er, so schwärmte er, auf Tornadojagd gehen. Aus der Prärie hat der – so die Selbstbeschreibung im Internet – «Meteorologe, der eventuell eines schönen Tages in Oklahoma leben wird», eine zeitlang getwittert. «Holy cow», schrieb er als «Weatherdude» an einem heißen Sommertag 2009, «113 degrees on Friday!»
In der Traumaambulanz fragt Professor Seidler seine neue Patientin, woran sie am meisten leide. Sonja A. weint und sagt, das könne niemand verstehen.
Auf den Amtsrichter wirkt Jörg Kachelmann «beherrscht und ausdrucksicher». «Wir haben», sagt er, «nie Weihnachten miteinander verbracht.» Vielleicht gabs zehn bis zwölf Treffen pro Jahr. Manchmal hätten sie sich «mehrere Monate» nicht gesehen, dann «pro Monat wieder häufiger».
Woran sie am meisten leide? Er sei die Liebe ihres Lebens gewesen, antwortet Sonja A. auf die Frage ihres Therapeuten. Wem solle sie noch vertrauen? Nach so viel Täuschung, Lug und Betrug?
«Die Perspektive war eigentlich nie ein konkretes Thema», sagt Jörg Kachelmann, «einfach
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