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Die Akte Kachelmann

Die Akte Kachelmann

Titel: Die Akte Kachelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Knellwolf
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Ungereimtheiten. Er erklärt – und seine helle Stimme brennt sich in Jörg Kachelmanns Gedächtnis ein –, er schenke aus aussagepsychologischen Gründen Sonja A. Glauben. «Das war für mich eigentlich der schlimmste Moment», wird am 2. August 2010 im «Spiegel» zu lesen sein, als Jörg Kachelmann über die Vernehmung spricht. «Von da an habe ich Dante im Kopf gehabt, dem zufolge über dem Eingang zur Hölle die Inschrift steht: Ihr, die Ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren.»
    Es sieht für den Beschuldigten nicht gut aus. Nach anderthalb Stunden in der Vernehmung, die ihn hätte entlasten sollen, steht er aus Sicht der Behörden schlechter da als zuvor. Auch dem Amtsrichter ist aufgefallen, wie der Verdächtige bei den Themen Messer und Tampon auf Nachfrage seine Aussage relativierte. «Er hat sich gut überlegen können, was er sagt», wird Reemen im Zeugenstand noch ausführen, «er war ja schon einige Tage in Haft.»
    Haftrichter Reemen beurteilt die Sache ähnlich wie der Staatsanwalt. Er gibt zu erkennen, er werde «Herrn Kachelmann nicht auf freien Fuß setzen». Er rückt nicht vom dringenden Tatverdacht ab. Was ihn dazu bewegt habe, wird in der Hauptverhandlung der Vorsitzende Richter seinen Kollegen fragen. «Seine Schilderung zum Ablauf des Abends», antwortet Reemen, «war mir nicht einleuchtend.» Auf Prozessbeobachter wird die Begründung des Mannes mit dem mächtigen Schnauzbart weltfremd wirken. «Ich ging davon aus, dass jemand, der einen einer solchen Straftat bezichtigt, wahrheitsgemäße Angaben macht», will Reemen überlegt haben. «Es gab Bilder der Verletzungen der Frau. Ich habe ausgeschlossen, dass sich jemand diese Verletzungen selbst zufügt.» Nicht eingeleuchtet habe ihm zudem, «dass eine Frau erst freiwillig den Geschlechtsverkehr ausführt und sich dann zur Trennung bespricht.» Jörg Kachelmann wird die Hände falten, als er das hört. Unter Richtern, denkt mancher im Landgerichtssaal, sollten sich die Erkenntnisse aus Praxisund Rechtsmedizin herumgesprochen haben, dass sich angebliche Opfer manchmal sogar selbst verstümmeln, um jemanden einer schweren Straftat zu bezichtigen.
    Der Beschuldigte hat Reemen auch seine Interpretation dargelegt, warum Sonja A. die verhängnisvolle letzte Nacht mit ihm so begann, wie er es schildert. Im Bett, hat Jörg Kachelmann ausgeholt, habe sie ihn abrupt zwei- oder dreimal gefragt: «Liebst du mich überhaupt?» Im Gespräch nach dem Essen sei klar geworden, welchen Hintergrund diese Frage gehabt habe. Sonja A. habe gehofft, dass er «eine gute Erklärung» zur Frau vom Flugticket habe. Doch diese Version überzeugt Siegfried Reemen nicht.
    Verteidiger Birkenstock muss erkennen, dass er Jörg Kachelmann noch nicht freibekommt. Er zieht seinen Haftprüfungsantrag zurück und kündigt «alsbald neue Beweise» für die Unschuld seines Mandanten an. Jörg Kachelmann unterschreibt das Protokoll, bedankt sich dafür, dass man ihm zugehört habe, und verabschiedet sich.
    Er bleibt in Haft, schreibt Sonja A. ins «warum.doc», Gott sei Dank.
    Nun geht es noch um Modalitäten der Abfahrt Jörg Kachelmanns aus dem Amtsgericht. Für die Behörden scheint es keine Option, Häftling H 08 1008 100 553 so diskret in die JVA zurückzubringen, wie er abgeholt worden ist. Jörg Kachelmann bleibt nur – so wird es die Verteidigung darstellen – die Wahl, ob er erhobenen Hauptes in den Polizeiwagen einsteigen will oder ob er sein Gesicht hinter einer Akte oder seiner Lederjacke verbirgt. Draußen warten seit Stunden unzählige Journalisten. Einigen Reportern, Fotografen und Kamerateams haben die Verantwortlichen des Amtsgerichts bereits Zutritt in den Innenhof gewährt.
    Um 15.24 Uhr fährt dort ein Gefangenentransporter vor – weniger als einen halben Meter vor die Tür. Die Journalisten protestieren. Sie drängeln. Die Spannung steigt. Wenig später fährt der Wagen fünf, sechs Meter vorwärts. Jörg Kachelmann, der einstige Boulevardjournalist, hat, vielleicht unter Zwang, entschieden, sich den Kollegen zu stellen. Das Amtsgericht wird behaupten, er habedies freiwillig getan. Kachelmanns Medienanwalt Ralf Höcker wird entgegnen, Gericht und Staatsanwaltschaft seien ihrer Schutzpflicht nicht nachgekommen.
    Es folgen elf Sekunden, die zu den bestdokumentierten und meistgezeigten des März 2010 gehören. Die Kameras laufen und klicken, als Reinhard Birkenstock durch eine Tür tritt, gefolgt von Jörg Kachelmann, flankiert von Polizisten. Eine

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