Die Akte Kachelmann
Reporterin ruft: «Herr Kachelmann, wie geht es Ihnen?» Der Gefragte lächelt, zuckt mit den Schultern, und antwortet: «Ich bin unschuldig, das ist alles, was ich im Moment sagen kann. Danke.» Während er seinem Verteidiger die Hand drückt, sagt er noch, fast unhörbar: «Nein, es ist gar nichts dran.» Dann steigt er hinten in den Gefangenentransporter. Er wird in die JVA zurückgebracht.
Sonja A. schreibt, sie stehe unter Strom. Vor versammelter Presse, scheinheilig, mit gequältem Lächeln, so hält sie fest, habe er seine Unschuld beteuert. Zwar habe er versucht, locker und selbstsicher zu wirken, doch langsam kapiere er, dass er mit Lügen nicht weiterkomme. Sie müsse durchhalten, fordert sie sich selbst auf, damit er eine gerechte Strafe bekomme. Gewinnen dürfe er nicht.
Die elf Sekunden aus dem Hof des Amtsgerichts werden für die Zeitungen, die Zeitschriften in Standbilder zerlegt. Es entstehen daraus jede Menge Kachelmänner: Einer grinst, der andere verzieht das Gesicht, ein nächster wirkt traurig. Beim Fernsehsender RTL darf eine Körpersprachenexpertin jede Regung analysieren und interpretieren. «Das Lächeln ist nicht echt», glaubt sie. Sie deutet auf die Mundpartie und erklärt: «Aus dem Grund, dass hier keine Falten sind.» Das schwarzweiß gestreifte T-Shirt, so weiß sie auch noch, wirke «wie ein Gitter». «Rasiert» bedeute: «Ich kann keinem was zuleide tun.»
Die Unschuldsvermutung wird bei solchen Interpretationen, bei all den küchenpsychologischen Ferndiagnosen, oft vergessen. Überhaupt geht sie in diesen Anfangstagen im Fall Kachelmann oft verloren. «Kommt er erst grau raus?», wird der «Blick am Abend» spekulieren. Übrig hat die, da gratis, zweitgrößte Zeitung der Schweiznur Häme: «So wie es aussieht, kann der Wetterfrosch langsam damit anfangen, seine Zelle häuslich einzurichten.» Angesichts der Parallelpartnerschaften des Wettermanns spöttelt das Umsonstblatt: «Die lange Haft hätte auch ihr Gutes – für beide Seiten. Er könnte seine Memoiren schreiben. Möglicher Titel ‹Nach em Räge, schiint d’Sunne.› Und seine Frauen könnten ausmachen, wer ihn 2025 vom Gefängnis abholt.» Von 15 Jahren Haft nach schwerer Vergewaltigung ist immer wieder die Rede, auch in seriöseren Blättern, obwohl die Höchststrafe für eine Tat, wie sie Jörg Kachelmann vorgeworfen wird, nie und nimmer in Frage kommt.
Bei «Bild» weiß ein Psychotherapeut: «Ganz klar: Kachelmann ist ein Medienmensch.» Er habe sich der Öffentlichkeit «mit einem Siegerlächeln» präsentiert. «Dieser Mann ist von seiner Unschuld überzeugt», heißt es. «Seine Mimik sagt: dumm gelaufen.»
Und wie geht es dem Vorverurteilten und gleichzeitig Vorfreigesprochenen? Dem Mann, der nun auf unbestimmte Zeit angeblich täglich 23 Stunden mit einem Kleinganoven in einer Doppelzelle sitzt? «Das Wissen um seine Unschuld», beteuert Birkenstock, «hält ihn aufrecht.»
Ein langer Tag endet damit, dass vor einer Tür eines Hauses im Kleinen Feld in Schwetzingen, das von Dutzenden Journalisten belagert wird, ein Töpfchen Narzissen steht. Die Mutter von Sonja A. liest die Botschaft in Schulmädchenschrift, die beiliegt. Doch mit der Journalistin aus Zürich reden, will sie in ihrer Trauer immer noch nicht.
Am nächsten Tag steht im «Blick»: «Jetzt spricht die Mutter des Opfers». Es folgt eine Reihe angeblicher Zitate: «Meine Tochter ist in der Klinik. Es geht ihr gar nicht gut». Die Mutter habe unter Tränen gesagt: «Das ganze Leben von Jörg ist eine Lüge. Er hat die ganzen elf Jahre nur gelogen.»
Die Schweine, schreibt Sonja A., haben ein gefaktes Interview mit meiner Mutter veröffentlicht. Wo führt das noch hin?
Kanada-Connection
In der ersten Nacht, die Jörg Kachelmann in einer Doppelzelle verbracht hat, ist in Island unter einem Gletscher ein Vulkan ausgebrochen. Eine Aschewolke wird nicht ausschließlich, aber auch dazu beitragen, dass sich das Bild von Jörg Kachelmann für Lena G. eintrüben wird. Und nicht nur für sie, sondern, zumindest zeitweilig, für Hunderttausende Menschen. Aber das ist eine lange Geschichte.
«Der nette Herr Kachelmann», titelt die «Bild»-Zeitung bereits eine Woche nach Verhaftung und Vulkanausbruch. Und sie schiebt die Frage nach: «Kann man sich in einem Menschen so täuschen?» Die ungeschriebene Antwort: Man kann. Doch, etwas kleiner gedruckt, heißt es auch noch: «Obwohl die Staatsanwaltschaft einen ‹dringenden Tatverdacht› sieht, glauben
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