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Die Akte Kachelmann

Die Akte Kachelmann

Titel: Die Akte Kachelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Knellwolf
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hatte. Er stopfte die Lücke, die Luise Greuel bemerkt hatte, als sie festhielt, die Angaben von Sonja A. zum Tatablauf wiesen eklatante Mängel auf. Seidler tat dies, indem er erklärte, seine Patientin leide wegen ihrer Vergewaltigung an einer posttraumatischen Gedächtnisstörung. Sie habe – vereinfacht gesagt – Informationen über ihre Misshandlung zum Teil nicht im Hirn abgespeichert, weil sie unter Schock stand. Seidler verwendet ein Erklärungsmuster, das Laien vielleicht einleuchtet, das aber unter Wissenschaftern höchst umstritten ist. Trotzdem war seine Argumentation für das Landgericht Mannheim ausschlaggebend gewesen, um Jörg Kachelmann weiterhin dringend einer Vergewaltigung zu verdächtigen und in Haft zu behalten.
    «Bild» titelte: «Hat Kachelmann den falschen Anwalt?» Die Antwort auf die Frage in der Boulevard-Schlagzeile hatte in der gediegeneren «Zeit» gestanden. Reinhard Birkenstock, so meinte die Autorin Sabine Rückert in der Wochenzeitung, stelle für den höchstwahrscheinlich unschuldigen Kachelmann – neben der rachsüchtigen Opferzeugin und verbissenen Staatsanwälten – «das dritte Problem» dar. «Die spärlichen Briefe des Verteidigers an die Staatsanwaltschaft legten die Befürchtung nahe, er beherrsche nicht das gesamte der Verteidigung zu Gebote stehende Instrumentarium der Strafprozessordnung gleichermaßen virtuos.» Nicht publik gemacht hatte sie, was sie kurz zuvor an «Rechtsanwalt Birkenstock persönlich» gemailt hatte. «Wir können nur zusammenkommen, wenn Ihre Verteidigung professionalisiert wird», hatte die meinungsfreudige Gerichtsreporterin vorgeschlagen. «Dazu sollten sie sich überlegen, einen Kollegen einzubinden, der Verfahren dieser Art auch gewachsen ist. Wenn Sie mein Buch gelesen haben, wissen sie, wen ich in einem solchen Falle wählen würde.» Dann nannte sie das Kind beim Namen: «Sie sagen ja selber, Sie seien mit Herrn Schwenn gut bekannt.»
    Zuvor hatte bei den Birkenstocks ein Buch mit dem Titel «Unrechtim Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen» im Briefkasten gelegen. Das Werk über Fehlurteile in Vergewaltigungsverfahren hatte Autorin Rückert mit Hilfe eines kooperativen Strafverteidigers verfasst: mit Johann Schwenn. Doch all das verschwieg sie, als sie – fast schon mit schwennschem Sarkasmus – in ihrem Vorfreispruch für Kachelmann in der «Zeit» auch noch urteilte, es gäbe «wenig, was sich an Birkenstocks Verteidigung rühmen ließe.»
    Ein halbes Jahr später wird Johann Schwenn Jörg Kachelmanns Strafverteidiger sein und Birkenstock, der seinen Bekannten nie in seinem Team wollte, abserviert.
    Doch heute ist der große Tag des Reinhard Birkenstock. Die Wolkendecke über Mannheim ist brüchig geworden. Reinhard Birkenstock, mit grüner Krawatte, und Johanna, gewohnt leger gekleidet, treten durch die grüne Tür in die JVA. Sie wirken entspannter. Die lang ersehnte Nachricht ist eingetroffen. Es gibt etwas Bedeutendes, wofür sich die Verteidigung rühmen lässt. Doch auch für die Birkenstocks heißt es: Warten auf Kachelmann. Die Enthaftung dauert doch noch etwas länger.
    Im Traum von Günter Seidler ist Jörg Kachelmann bereits freigekommen. Ihr Therapeut habe davon geträumt, dass das passieren würde. So wird es Sonja A. Mitte August Hans-Ludwig Kröber erzählen, als sie einen kurzen Abend lang und am Morgen darauf von ihm befragt wird. Die Exploration und psychiatrische Untersuchung werden dreieinhalb Stunden dauern. Die 57 Seiten Kröbers werden eine weitere von mittlerweile einem Dutzend widersprüchlicher Expertisen im Fall Kachelmann sein. Es befasst sich mit der Frage, ob sich die Mängel in der Aussage von Sonja A. mit einer Traumatisierung erklären lassen. In seiner Schrift macht der gefragte Forensiker kein Geheimnis daraus, dass er für akademischen Unsinn hält, was Seidler geschrieben hat. «Ich sehe die Psychotraumatologie als Spielart der Versorgung von Menschen, die Belastendes hinter sich haben», wird er im Prozess sagen. «Da werden Glaubensüberzeugungen transportiert, die der wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten.»
    Kröber kann nicht nachvollziehen, weshalb Seidler in einem lilafarbenen Seidenschal, den seine Patientin trägt, wenn sie bei ihm aufkreuzt, und in wiederholten Griffen an den Hals während der Sitzungen fast schon einen Beweis sieht. Einen Beweis dafür, dass Kachelmann seine Expartnerin mit einem Messer bedrohte. Ebenso ist für Kröber denkbar, dass Sonja

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