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Die Akte Kachelmann

Die Akte Kachelmann

Titel: Die Akte Kachelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Knellwolf
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glaubt, wenn sie die fantastisch anmutende Vorgeschichte mit dem selbst aufgesetzten Schreiben bei der Polizei zugeben würde.
    Der Anlass für die Drängelei vor der grünen Tür in der Herzogenriedstraße 111 guckt von drinnen der wachsenden Masse draußennoch ein bisschen zu. Jörg Kachelmann sieht, wie mehr und mehr Reporter, Kameraleute und vor allem Gaffer auf ihn warten. Er scheint keine Eile zu verspüren, seinen Zwangsaufenthalt zu beenden. Nach 131 Tagen kommt es auf ein paar «Minütli» nicht mehr an. «Sehr lustig» sei der Abschied für die Kumpels aus dem Knast gewesen, wird Jörg Kachelmann den «Spiegel»-Lesern verraten, «weil wir im Fernsehen verfolgen konnten, wie die Kameras live den Haupteingang zur Justizvollzugsanstalt filmten.»
    Professor Günter Seidler schlägt Alarm. Eben hat er von Thomas Franz, dem Anwalt seiner Patientin, erfahren, dass jemand freikommt, der in seinen Augen nicht so schnell freikommen dürfte. Einer, der nach allem was Sonja A. ihm zweimal die Woche in Therapiesitzungen berichtet, ein unberechenbarer Mensch sein muss. Für solche Ferndiagnosen und ihre Folgen wird der renommierte Gerichtspsychiater Hans-Ludwig Kröber, Professor an der Charité in Berlin, Seidler scharf kritisieren: Der Therapeut aus Heidelberg agiere hier und nicht nur hier als juristischer Helfer.
    Günter Seidler nimmt nicht nur die angebliche Todesdrohung ernst, von der ihm Sonja A. erzählt hat. Er macht sich auch Gedanken darüber, ein Treffen der Expartnerinnen Jörg Kachelmanns zu organisieren. Aus seinen Therapieaufzeichnungen geht hervor, dass «Opferanwalt» Franz und er einer Art Betrogenen-Zusammenkunft beiwohnen könnten. So liesse sich vielleicht, notiert Seidler, die «Multiplizität des Herrn Kachelmann» rekonstruieren und auch eine psychiatrische Begutachtung initiieren. Von all diesen seidlerschen Bemühungen im Besonderen und von den Traumatologen im Allgemeinen hält Kröber gar nichts. Doch die Gedanken aus der Hauptstadt zum «lokal tätigen Wissenschafter» Seidler und zur Traumatologie werden erst am Tag des Prozessauftakts gegen Jörg Kachelmann bei der Mannheimer Justiz eintreffen. Und so lange steht das «Gutachten» Seidlers mehr oder weniger unwidersprochen im Raum. Eineinhalb weitere Monate lang zählt die Meinung des Therapeuten von Sonja A. viel. Er hält Jörg Kachelmann wohl für einen antisozialen Typen. Auf diese Charakterisierung deutet zumindest eine Buchempfehlung Seidlers an seine Patientin hin.
    Die Menschentraube vor der grünen Tür wächst und wächst. Weshalb alles so lange gedauert habe, wird Jörg Kachelmann am Tag darauf gefragt. Er habe, antwortet er, nicht wegrennen wollen von seinen «Bezugspersonen», er habe sich «von allen angemessen verabschiedet», von seinem Kumpel, ja neuen Freund René, mit dem er viel geschrubbt und geredet habe, von den anderen, den Mördern und Erpressern, auf die er nicht herunterschauen wolle.
    Therapeut Seidler hat Sonja A. in einer der ersten Therapiestunden ein Buch der amerikanischen Psychologin Martha Stout ans Herz gelegt. «Der Soziopath von nebenan» handelt von netten Menschen, die in Wahrheit gefühlskalt sind. Das ist der Jörg! Das habe sie gedacht, wird Sonja A. sagen, als sie es las. Kachelmann ist ihr Soziopath von nebenan. Dieser besondere Charme! Diese ständige Mitleidsmasche!
    Vielleicht wäre ihr alles nicht passiert, wird Sonja A. auch erklären, wenn sie das Buch früher gelesen hätte. Nach der Lektüre steht für sie fest: Jörg Kachelmann muss immer als Sieger vom Platz gehen. Aber das dürfe nicht sein. Diesmal nicht.
    Sie, die Nebenklägerin, wird sich Stouts Buch vor das Gesicht halten, als sie zum 12. Prozesstag in die Tiefgarage des Mannheimer Landgerichts gebracht wird. Die Beifahrerin im dunkeln BMW will so ein stummes Zeichen setzen. Die Bilder laufen auf allen Kanälen. Der «Soziopath von nebenan» ist am nächsten Tag, als Buchcover vor den blonden Haaren von Sonja A., in unzähligen Zeitungen zu sehen. Der Untertitel, klein geschrieben, weil lang, ist schwer zu lesen in den Fernsehaufnahmen und auf den Pressefotos. Er lautet: «Die Skrupellosen: ihre Lügen, Taktiken und Tricks.» Viele werden sich fragen: Lässt sich das auf Jörg Kachelmann beziehen oder vielleicht doch eher auf die Frau mit dem Buch vor dem Gesicht oder sogar auf beide? Psychiater Hartmut Pleines, der den Angeklagten begutachten wird, hält das Buch für «gut geschrieben», aber es kennzeichne «nicht Herrn

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