Die Akte Kachelmann
Heimatfront», sagt Kachelmann, «stand.» «Erschwert die Vorliebe für etwas härteren Sex das Gerichtsverfahren?», fragen die Interviewer. «Zum Verfahren kann ich nichts sagen», lautet die Antwort. «Fragen Sie meinen Anwalt.» Reinhard Birkenstock schaltet sich ein: «Die Damengeschichten haben keinerlei Beweiswert. Im Beschlussdes Oberlandesgerichts spielen sie auch jetzt keine Rolle. Die Staatsanwaltschaft hatte anfangs immer betont, wir sind keine Moralapostel. Im Laufe des Verfahrens, als ihr die Felle davonschwammen, ist sie davon abgewichen. Mit gezielten Durchstechereien an Medien sollte meinem Mandanten geschadet werden.»
Doch allzu gut kann das nicht funktioniert haben. Der «Stern» hat bereits vor der Haftentlassung eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben. 45 Prozent der Deutschen halten Jörg Kachelmann für unschuldig. Nur für 22 Prozent ist er ein Vergewaltiger. Immerhin ein Drittel der Befragten traut sich kein Vorurteil zu. «73 Prozent wollen Kachelmann am Bildschirm zurück», schreibt «Bild am Sonntag». Und in Klammern und kleinerer Schrift ist zu lesen: «Wenn er unschuldig ist».
Die Interviews vom Tag nach der Freilassung lesen sich leicht, fast zu leicht. Auf mehrere, die eben noch einen kämpferischen, aber doch nachdenklichen Mann im Gefängnis besucht haben, wirkt der Freigelassene wie ausgewechselt. Nonchalance und Überheblichkeit nehmen Nahestehende im TV- und im «Spiegel»-Interview wahr, statt der versprochenen Demut.
In der Woche zuvor hatte Jörg Kachelmann über seine Anwälte dem OLG Karlsruhe versichert, er wolle im Prozess um seine Rehabilitierung kämpfen und er wolle «zu Lebensführungsfehlern stehen». Doch zurück in Mannheim wird er lange schweigen.
Das Wiedersehen
Alle warten gespannt auf ihn, als sie durch den Seiteneingang hineinkommt. Kaum jemand unter den 86 Zuschauern auf den limitierten Schalensitzen bemerkt die hagere Frau. Und auch nur wenige der 48 zugelassenen Journalisten schauen hin, als sie erhobenen Hauptes und etwas steif zu ihrem Platz geht.
Die bekannteste Unbekannte der Republik trägt schwarz, bis auf eine lilafarbene Hose und ein auffälliges lilafarbenes Halstuch, das Gegenstand vieler Spekulationen wird. Verbirgt sie damit die Spuren einer Selbstverletzung? Oder die Narbe einer Verwundung, die ihr der Mann zugefügt hat, der in diesem Augenblick unter ihr in die Tiefgarage des Mannheimer Landgerichts gefahren wird?
Im fensterlosen Saal 1 mit dem weißlichen Deckenlicht sind jetzt auch die Schaulustigen auf sie aufmerksam geworden. «Ist das die Frau?», fragt eine ältere Zuschauerin so laut, wie sie es vielleicht aus dem Altersheim gewohnt ist.
Es ist die Frau. Das Opfer. Oder die Täterin. Die Vergewaltigte. Oder die Rufmörderin.
Kaum jemand hier hat kurz vor 9 Uhr am Montag, den 6. September 2010, mit ihr gerechnet. Die «Bild»-Zeitung, die in den Zuschauerreihen gelesen wird, hat sich zum Prozessauftakt die Frage gestellt: «Wird das mutmaßliche Opfer heute kommen?» Und sich geantwortet: «Nein.» Alice Schwarzer, die für «Bild» Kolumnen verfasst, schäkert mit Journalistenkollegen und bekommt erst mit Verspätung mit, dass das Unerwartete eingetreten, dass die Unerwartete eingetroffen ist. Auch Jörg Kachelmanns Verteidiger wirken überrascht. Rechtsanwalt Reinhard Birkenstock verlässt kurz den Raum – wohl um seinen Mandanten zu informieren: Sonja A. ist da.
Es verstreichen einige Minuten. Es bleibt Zeit, um zu lesen, wie Alice Schwarzer über eine halbe «Bild»-Seite hinweg argumentiert, weshalb sie ausgerechnet dort schreibt. Sie wolle ankämpfen gegen ein «Klima», rechtfertigt sich die Frauenrechtlerin, in dem «ein Mensch öffentlich degradiert und für vogelfrei erklärt wird». Sie bezieht ihre Worte nicht auf Jörg Kachelmann, mit dem sie auch schon vor laufender Kamera Rock’n’Roll getanzt hat und den sie – wie sie beteuert – «immer gut leiden» konnte. Ihr geht es um die 37-Jährige mit den schulterlangen blonden Haaren, die unter der Einseitigkeit der mitverteidigenden Leitmedien wie «Spiegel» und «Zeit» zu leiden habe, und um «Millionen Frauen», die betroffen seien. Die «Emma»-Herausgeberin will gegensteuern und macht sich mit Hilfe eines wenig feministischen Massenblatts zur publizistischen Nebenklägerin gegen ihren Extanzpartner. Also schreibt die Kämpferin gegen Sexismus für «Bild» über den – so die Hauptschlagzeile an diesem warmen Septembermorgen – «Prozess des
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