Die Akte Kachelmann
die Verschwesterung scheitert daran, dass Sonja A. nichts davon bemerkt. Oder vielleicht auch nichts davon bemerken will. Wie kurz zuvor, als Jörg Kachelmann doch noch einen scheuen Augenblick lang zu ihr hinübergeblickt hat.
Die Blickrichtungen der Hauptpersonen werden – da es sonst nicht viel zu berichten gibt – gedeutet werden. Aber die dargestellten Sichtweisen verraten vor allem etwas über den Standpunkt der Schreibenden. «Spiegel»-Autorin Gisela Friedrichsen will gesehen haben, wie der Angeklagte während der wenigen Minuten des ersten Verhandlungstags «mehrfach den Blickkontakt – fragend und irritiert wirkend – zu seinem mutmaßlichen Opfer» suchte. Doch, so schrieb die bekannteste deutschsprachige Gerichtsreporterin, «die junge Frau, sehr dünn, blass und spitz im Gesicht, verweigerte jeglichenBlick in seine Richtung». Die «Bild»-Zeitung mit ihrem halben Dutzend Leuten in und um den Gerichtssaal hatte das alles während der knapp 300 Sekunden Prozessdauer ganz anders wahrgenommen. «Kachelmann würdigte Ex-Geliebte keines Blickes», titelte das Blatt. Und die «Bild»-Sondergesandte Alice Schwarzer hatte eine «zarte, blonde junge Frau» erblickt, das Gesicht «blass, aber gefasst, ja entschlossen.»
Für die «Bild am Sonntag» durfte die Schriftstellerin Thea Dorn in der ersten Journalistenreihe sitzen, um ein, so muss man annehmen, ernst gemeintes Kachelmann-Märchen zu dichten. Darüber wird der Titel «Zwei Verlorene im Labyrinth der Lebenslügen» stehen. «Die verzweifelte Königstochter», so lautet eine der schönsten Zeilen, «hat den Wetterfroschkönig an die Wand geworfen. Doch der verwandelte sich nicht in einen Königssohn mit schönen und freundlichen Augen. Sondern in den bösen Wolf.»
Sonja A. antwortet nicht auf die Journalistenfrage, weshalb sie heute schon erschienen ist. Sie sagt nur, dass sie nichts sagen möchte. «Ich nehme an», versucht Oberstaatsanwalt Oskar Gattner später ihre Motivation zu deuten, «sie ist gekommen, weil sie in der Öffentlichkeit stark angegriffen worden ist.» Es gehe der Frau wohl darum, mit der Präsenz zu zeigen, dass sie zu ihrer Beschuldigung stehe.
Im BMW X5 ihres Anwalts verlässt Sonja A. nun das Gericht. 15 Kilometer sind es bis zu ihr nach Schwetzingen. Keine vier Kilometer weiter wohnt Richter Seidling. Er und die Eltern von Sonja A. müssten sich über ihre kooperierenden Sportvereine kennen, steht im Befangenheitsantrag. Seidling lebt in der Nachbargemeinde der Familie A. und sitzt dort im Gemeinderat. Grund zur Sorge bereitet dem Angeklagten laut dem Schriftsatz von Verteidiger Birkenstock auch, dass Seidling in der «Schwetzinger Zeitung» bereits vom «Opfer» statt vom «mutmaßlichen» oder «angeblichen Opfer» gesprochen habe. Der Richter war im Lokalblatt zitiert worden, er kenne weder die Familie noch «das Opfer».
In ihrem Befangenheitsantrag listet die Verteidigung weitere angebliche oder tatsächliche Verfehlungen und Verbandelungen des Vorsitzenden Richters auf. An Michael Seidling und an DanielaBültmann moniert der Angeklagte unter anderem, dass sie bei ihm von «hoher Verurteilungswahrscheinlichkeit» ausgingen. Dies habe die 5. Große Strafkammer in ihrem Eröffnungsbeschluss festgehalten.
Draußen sind Oliver Pocher und sein Gefolge abgezogen. Aber Indira Weis, der als Sängerin der Retortenband «Bro’sis» einst kurzer Erfolg beschieden war, erklärt in die Kameras, dass sie sich «die große Kachelmann-Show» nicht habe entgehen lassen wollen. Als Interviewpartnerin ist Indira gefragt, gilt sie doch als Wettermann-Expertin, seit sie es dank ihrer «50 heißen Flirt-SMS» mit Kachelmann auf die «Bild»-Titelseite geschafft hat. Bevor der Prozess richtig losgeht, hat die Stunde der Trittbrettfahrer geschlagen.
Jörg Kachelmann nimmt in der Tiefgarage auf dem Rücksitz eines silbernen BMW Platz. Sein Jackett hat der Angeklagte ausgezogen. Was er noch nicht ahnen kann: Die Spießrutenfahrt, die jetzt gleich beginnt, wird zu einem Ritual, das er noch über achtzig Mal über sich ergehen lassen muss. Jedes Mal wenn er hinein- und herausgefahren wird, werden Kameraleute und Fotografen auf ihn, der sie nicht will, warten. Jörg Kachelmann verschränkt die Arme. Er blickt geradeaus, als würde er nicht bemerken, was um ihn herum geschieht. In Mannheim ist es jetzt halb zehn, und das Thermometer zeigt bereits 21 Grad an, warm für diese Jahreszeit, zu warm für Jörg Kachelmann. Sein Lieblingswetter ist
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