Die Akte Kachelmann
Jahres». Weiter unten auf der Titelseite heißt es, «Marwan (26) aus Emmendingen» lasse sich «gern ausziehen». Sie hat bereits nicht mehr viel an. Was das «Bild Girl» des Tages «abtörnt»: «Lügen, Brustbehaarung».
Jörg Kachelmann ist, so glauben viele im ersten Augenblick, vorgefahren, im dunklen Offroader, noch dunklerer Lederjacke und mit Fusselbart. «Ich bin unschuldig», hat er, die Autoscheibe heruntergelassen, verkündet. Im Schlepptau hat er eine Schar junger Damen. Das Dutzend Begleiterinnen sieht aus wie Marwan aus Emmendingen, aber es trägt nummerierte, eng anliegende weiße T-Shirts mit roten Herzchen. Auf Brusthöhe steht: «Lausemädchen». Vor dem Gerichtsgebäude wird Jörg Kachelmann von Reportern und Schaulustigen umringt. Er wirkt ungepflegt. Er küsst seine Lausemädchen, die lächeln. Er umarmt den Justizbeamten, der ihm auf Schritt und Tritt folgt, und gibt auch ihm einen Kuss.
Irgendwann muss jedem Betrachter der morgendlichen Szene ein Licht aufgehen: Das kann gar nicht der Kachelmann sein! Und einige werden merken: Das ist doch der Olli! Oliver Pocher, der TV-Blödlerim Einschaltquotentief. Er hat sich als Kachelmann verkleidet. Die Tragödie zweier Menschen ist ihm ein paar Scherze wert.
Um 9.09 Uhr betritt der echte Jörg Kachelmann den Gerichtssaal. Er wirkt ganz anders als der Wettermann aus dem Ersten. Er ist auch nicht mehr der Kachelmann aus der Untersuchungshaft, den Oliver Pocher fünfzig Schritte entfernt zu parodieren versucht. Es ist Kachelmann der Angeklagte.
So sorgfältig frisiert und zurechtgezupft hat man ihn kaum je erlebt. In seinem dezent gestreiften Anzug strahlt der einst so stürmische Wetterentertainer Seriosität, Sorge und jene Demut aus, die viele – gerade aus seinem Umfeld – in den Medienauftritten nach der Freilassung vermisst haben. Falls er sich jetzt um eine Unschuldsmiene bemüht – der Ausdruck gelingt ihm nicht schlecht. Falls er ohne Schuld ist – man sieht es ihm an.
Es ist nicht eingetreten, was Mannheimer Staatsanwaltschaft und Richter befürchtet haben: Der Bürger von Schaffhausen hat sich nicht in die Schweiz abgesetzt und ist auch nicht in seiner zweiten Heimat Kanada geblieben.
Und so beobachten Zuschauer und Journalisten, wie zwei Menschen aufeinandertreffen, die sich elf Jahre lang alle paar Wochen sahen. Die mehr als häufig über Internet kommunizierten. Und die sich seit den ersten Stunden des 9. Februar 2010 nicht mehr gesehen haben.
Es sind zwei Menschen vor Gericht erschienen, die das wohl schrecklichste Halbjahr ihres Lebens hinter sich haben. Und die wissen, dass der Horror noch Monate, vermutlich Jahre weitergeht.
Er schaut so ernst wie sie. Er wirkt so fahl wie sie. So angespannt, abgekämpft. Das einstige Paar trennen jetzt fünf, sechs Meter. Ein Blickkontakt ist noch nicht möglich, denn zwischen ihnen stehen Kameraleute und Fotografen. Sie alle wollen Kachelmann den Angeklagten einfangen. Sonja A. haben sie schon.
Nach zwei endlosen Minuten Blitzlichtgewitter müssen sie hinaus. Der Vorsitzende Richter Michael Seidling sagt: «Wir beginnen heute mit der Strafsache gegen Jörg Kachelmann.» Der Prozess isteröffnet. Die beiden Verlierer stehen – unabhängig vom Ausgang – bereits fest.
Sonja A. guckt für einen langen Augenblick hinüber zu dem Mann, in dem sie lange ihren Partner fürs Leben sah. Jörg Kachelmann erwidert den Blick nicht. Etwas verloren schaut er geradeaus.
Nach fünf Minuten und einem kurzen Streit über die Sitzordnung im Saal geht ein Raunen durchs Publikum. Richter Seidling hat die Verhandlung unterbrochen, weil gegen ihn und gegen seine Kollegin, Daniela Bültmann, am Wochenende ein Befangenheitsantrag eingegangen ist. Bis über das Begehren der Verteidigung entschieden ist, wird die Sitzung vertagt.
«Vier Stunden habe ich draußen gewartet», wettert ein Rentner, «und das soll alles gewesen sein?» Die Zuschauer, die sich im Morgengrauen vor dem Gericht angestellt haben, sollen nicht einmal erfahren, weshalb Jörg Kachelmann befürchtet, zwei der drei Richter seien befangen. Die Verteidigung hält ihren 67 Seiten dicken Antrag samt rund 200 Seiten Anhang unter Verschluss. «Immerhin haben wir Kachelmann gesehen», freut sich eine jüngere Frau, als sie hinausgeht. «Unschuldig» habe er ausgesehen.
Sonja A. hat sich erhoben. Sie steht einen Augenblick lang da, als wüsste sie nicht, was sie jetzt tun soll. Alice Schwarzer versucht, ihr einen warmen Blick zuzuwerfen. Doch
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