Die Akte Nr. 113
seine Frau, die niedergebeugt dasaß als erwarte
sie ihr Todesurteil. Aber plötzlich durchzuckte ihn der
Gedanke, daß das ein abgekartetes Spiel sei und man ihn
betrügen wolle.
»Das ist nicht möglich,«
stieß er hervor. »Beweise, schaffen Sie
Beweise!«
»Die können Sie haben,« antwortete
Verduret ruhig »aber vorerst hören Sie.«
Und rasch entrollte er in großen Zügen das
von ihm aufgedeckte Drama.
Gewiß war die Wahrheit für Fauvel noch immer
furchtbar, aber doch weniger gräßlich als das, was er
geglaubt hatte.
An dem was er gelitten, konnte er seine Liebe zu seiner Frau
ermessen. Sollte er eine so weit zurückliegende Schuld, die
durch ein Leben der Aufopferung und soviel Leiden gesühnt war,
nicht vergeben können?
Verduret hatte seinen Bericht längst geendet und
Fauvel schwieg noch immer. Sein Herz war zum Verzeihen geneigt, Gaston
war tot, die Vergangenheit wäre ausgelöscht gewesen,
ohne den lebenden Zeugen einer vergangenen Schuld. »Und dieser
Elende,« sagte er, seinen Gedanken laut Ausdruck gebend,
»dieser Bube, der dich beraubt und mich bestohlen hat, ist
dein Sohn!«
Frau Fauvel brach aufs neue in Tränen aus, aber an
ihrer Stelle antwortete Verduret: »Die gnädige Frau
glaubt es allerdings, aber in Wahrheit ist er es nicht, man hat sie
schändlich betrogen, um sie leichter ausrauben zu
können.«
Schon seit geraumer Weile war Raoul bemüht, sich
geschickt der Tür zu nähern, um verstohlen das Weite
zu suchen, aber in dem Augenblick als er sich unbeachtet
wähnte und verschwinden wollte, drehte sich Verduret rasch um,
legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Ei, wohin so
schnell, junger Herr? Sie sind uns noch einige Aufklärungen
schuldig, also müssen Sie schon noch verziehen.«
Der spöttische Ton war für Raoul wie eine
Offenbarung, jetzt erkannte er die Stimme und entsetzt entfuhr ihm das
eine Wort: »Der Bajazzo!«
»Jawohl, der Bajazzo, hier ist das
untrügliche Zeichen, daß er es wirklich
ist,« antwortete Verduret, indem er den Ärmel
aufstreifte und die frische Narbe sehen ließ.
»Erkennen Sie dies kleine Andenken? Ist es Ihnen
erinnerlich, wie Sie mich nach dem Balle bei Jandidier auf offener
Straße mit dem Messer überfielen?«
»O Gott, was werde ich noch alles hören
müssen,« stöhnte Fauvel, »ist es
der Schmach und Schande noch nicht genug!«
»Beruhigen Sie sich, Herr Fauvel,«
entgegnete Verduret »und hören Sie den
Schluß meiner Geschichte: Nachdem Louis von Clameran von
Milhonne das – Unglück der Komtesse von Laverberie
vernommen hatte, begab er sich sofort nach England, um die
Bäuerin, der das Kind übergeben worden war,
aufzusuchen. Zu seiner Enttäuschung aber mußte er
erfahren, daß der kleine Raoul Wilson mit achtzehn Monaten an
der Bräune gestorben war.«
»Das ist nicht wahr,« fiel Raoul ein,
»wer will das behaupten?«
»Wer? Die Behörden, und Leute, die es wissen
müssen,« versetzte Verduret, »hier die
beglaubigten Dokumente, die Aussagen der Bauersfrau, ihres Mannes und
vier Zeugen, hier der Auszug der Matrikel, der Taufschein, und dies
hier ist der Totenschein. Sämtliche Papiere sind, wie Sie
sehen, nicht nur vom Notar, sondern auch von der französischen
Gesandtschaft beglaubigt.«
»Das ist alles falsch,« sagte Raoul frech.
»So? Nun dann sagen Sie mir, was Sie von der kleinen
Geschichte halten, die mir einer meiner Freunde, der eben aus London
kommt und vorzüglich unterrichtet ist, mitteilte. Passen Sie
gut auf, vielleicht kommt sie Ihnen bekannt vor. Ein Lord Murray, ein
sehr reicher und freigebiger Mann, hatte einen Jockei namens Spencer,
auf den er große Stücke hielt. Bei einem Rennen in
Epsom stürzte aber der gewandte Jockei so
unglücklich, daß er sich das Genick brach. Der Lord
war in Verzweiflung, und da er selber kinderlos war, so nahm er sich
des kleinen, damals vierjährigen Söhnchens Spencers
an. Der kleine James war ein reizendes Kind und bezauberte Lord Murray
so, daß er ihn wie einen Prinzen erziehen ließ. Bis
zu seinem sechzehnten Lebensjahre betrug sich James zur Zufriedenheit
seines Wohltäters, dann aber machte er schlechte
Bekanntschaften und geriet auf Abwege. Sein gütiger Ziehvater
vergab ihm wiederholt seine schlechten Streiche, als er es aber gar zu
bunt trieb und sogar Wechsel fälschte, da jagte ihn Lord
Murray entrüstet aus dem Hause. Vier Jahre trieb sich James
Spencer in den Londoner Spelunken herum
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