Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
»Meine Frau wartet auf mich.«
»Nun komm schon. Nur noch einen kleinen Schluck zum Abschluß. Wir lassen uns einen auf mein Zimmer bringen und quatschen noch ein bißchen von den alten Zeiten.«
Bayer grinste betrunken.
»Da war noch was los, was, Junge? Rolf, Mensch, das waren Zeiten damals!«
Miller stieg aus, ging um den Wagen herum und hievte den Dicken aus dem Wagen.
»Ja, das waren noch Zeiten«, bestätigte er, als er ihn über den Gehsteig und durch den Hoteleingang lotste. »Komm, jetzt schwatzen wir erst mal noch ein bißchen von damals.«
Die Beleuchtung des Mercedes, der ein Stück weiter die Straße hinauf hielt, war abgeblendet worden, und der graue Wagen verschmolz mit den grauen Schatten der Straße.
Miller hatte seinen Zimmerschlüssel in der Tasche behalten. Der Nachtportier, der auf seinem Stuhl hinter dem Tresen saß, war eingenickt. Bayer murmelte irgend etwas Unverständliches.
»Ssschscht«, machte Miller. »Leise sein.«
»Leise«, wiederholte Bayer und schlich, den Finger auf den Lippen, schwankend auf die Treppe zu. Er kicherte über seine eigene pantomimische Darbietung. Zum Glück befand sich Millers Zimmer im ersten Stock; noch eine Treppe hätte Bayer nie geschafft. Miller schloß leise die Tür auf, knipste das Licht an und bugsierte Bayer in den einzigen Lehnstuhl des Zimmers – eine nicht sonderlich bequeme, ziemlich harte Sitzgelegenheit mit Armlehnen aus Holz.
Draußen, auf der anderen Seite der Straße, stand Mackensen und behielt die dunkle Front des Hotels im Auge. Als in Millers Zimmer das Licht anging, sah er, daß es im ersten Stockwerk war, von ihm aus gesehen auf der rechten Seite des Gebäudes.
Er überlegte, ob er geradewegs hinaufgehen und Miller, sobald er an der Tür erschien, niederstechen sollte. Zwei Dinge bewogen ihn, davon Abstand zu nehmen: einmal die Tatsache, daß der Nachtportier von Bayers schwerem Schritt geweckt worden war. Durch die Glastür beobachtete er, wie er sich in der Hotelhalle die Beine vertrat. Ein Fremder, der kein Hotelgast war und um 2 Uhr morgens die Treppe hinauflief, würde seiner Aufmerksamkeit gewiß nicht entgehen; er dürfte der Polizei eine gute Personenbeschreibung liefern. Und der zweite Umstand, der ihn von einem solchen Vorgehen absehen ließ, war Bayers Zustand. Er hatte gesehen, wie der fette Mann von Miller über das Trottoir zum Hoteleingang geschleppt worden war. Er wußte, daß er Bayer nicht schnell genug aus dem Hotel herausbringen konnte, wenn er Miller umgelegt hatte. Falls die Polizei Bayer festnahm, bekäme er es mit dem Werwolf zu tun. Bayer wirkte zwar ganz harmlos, aber unter seinem richtigen Namen war er ein gesuchter SS-Verbrecher und für die ODESSA ein wichtiger Mann.
Ein letzter Faktor bewog Mackensen, sich für einen Fensterschuß zu entscheiden. Gegenüber dem Hotel stand ein halbfertiger Neubau. Die Wände waren bereits gezogen, die Fußböden gelegt worden, und eine unfertige Betontreppe führte zum ersten und zweiten Stockwerk hinauf. Er konnte sich Zeit nehmen, denn Miller würde das Hotel nicht verlassen. Mackensen ging zu seinem Wagen zurück und holte das Jagdgewehr aus dem verschlossenen Kofferraum.
Bayer wurde von dem Schlag vollkommen überrascht. Der Alkohol hatte seine Reaktionsfähigkeit allzusehr verlangsamt. Er konnte ihn nicht mehr rechtzeitig abfangen oder ausweichen. Miller hatte vorgegeben, nach seiner Flasche Whisky zu suchen, den Kleiderschrank geöffnet und seine zweite Krawatte herausgeholt – die andere trug er. Er löste den Knoten und nahm sie auch in die Hand.
Bayer saß mit dem Rücken zu ihm im Sessel und murmelte: »Das waren noch Zeiten damals …«
Die gewaltige Masse seines rosa Fettnackens veranlaßte Miller, so hart zuzuschlagen, wie er nur konnte.
Es war nicht einmal ein Knockout-Schlag, denn seine Handkante war weich, er selbst ungeübt und Bayers Genick von Fettschichten geschützt. Aber es reichte. Als der ODESSA-Mann seine Benommenheit überwunden hatte, waren seine beiden Handgelenke an die Lehne des Sessels gefesselt. »Was, zum Teufel –«, knurrte er undeutlich und schüttelte blöde den Kopf. Miller band ihm die Krawatte ab und zurrte damit Bayers linkes Fußgelenk an einem Stuhlbein fest; für das rechte Fußgelenk nahm er die Telefonschnur.
Mit entsetzt gerundeten Knopfaugen sah Bayer zu ihm auf, als er zu begreifen begann. Wie alle seine Gesinnungsfreunde wurde er von einer Angst verfolgt, die ihn nie ganz verließ.
»Sie dürfen mich
Weitere Kostenlose Bücher