Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
wieherndes Gelächter aus.
In den acht Jahren seiner Tätigkeit als Reporter hatte Miller gelernt, zu trinken und trotzdem einen klaren Kopf zu behalten. Aber er war den Weißwein nicht gewohnt, der in beträchtlichen Mengen zum Essen getrunken wurde. Doch die Sorte, die Bayer bestellt hatte, war vorteilhaft, die Flaschen wurden in Eiskübeln gebracht, damit der Wein kalt blieb, und so konnte Miller dreimal ein volles Glas ausgießen, als Bayer wegschaute. Als sie beim Nachtisch angelangt waren, hatten sie zwei Flaschen geleert, und Bayer in seiner engen Jacke mit den Hirschhornknöpfen schwitzte heftig. Dies wiederum steigerte seinen Durst, und so bestellte er eine dritte Flasche Weißwein.
Miller gab sich sorgenvoll. Vielleicht konnte man ihm doch keinen neuen Paß beschaffen, und dann würde er unweigerlich eingesperrt wegen seiner Rolle bei den Ereignissen 1945 in Flossenbürg.
»Sie brauchen doch bestimmt ein paar Photos von mir, oder?« fragte er ängstlich.
Bayer lachte.
»Ja, ein paar Photos brauchen wir schon. Kein Problem. Die können Sie sich von einem Automaten am Bahnhof machen lassen. Warten Sie damit, bis Ihr Haar ein bißchen länger und der Bart etwas voller geworden ist. Dann wird niemand je erfahren, daß es sich noch immer um denselben Mann handelt.«
»Und wie geht es dann weiter?« fragte Miller neugierig.
Bayer beugte sich zu ihm hinüber und legte ihm einen fetten Arm um die Schultern. Miller spürte, wie ihm der saure Weinatem über das Gesicht strich, als ihm der dicke Mann ins Ohr kicherte.
»Dann schicke ich Sie zu einem Freund von mir, und eine Woche später ist der neue Paß da. Mit dem können Sie dann einen neuen Führerschein – die Fahrprüfung müssen Sie natürlich ablegen – und die sonstigen Papiere ausgestellt bekommen. Für die Behörden sind Sie gerade von einem fünfzehnjährigen Aufenthalt in Übersee zurückgekehrt. Kein Problem, alter Junge. Hören Sie auf, sich deswegen Gedanken zu machen.«
Obwohl Bayer langsam wirklich betrunken wurde, hielt er immer noch seine Zunge im Zaum. Er weigerte sich, mehr zu sagen, und Miller wollte ihn nicht zu sehr drängen. Er sollte keinen Verdacht schöpfen, daß irgend etwas mit seinem Gast nicht stimmte.
Er hätte gern einen Kaffee getrunken, lehnte ihn aber ab, weil der Kaffee Bayer womöglich wieder nüchtern gemacht hätte. Der fette Mann zückte seine gutgefüllte Brieftasche und bezahlte die Rechnung für das Essen. Sie gingen zur Garderobe. Es war halb elf.
»Haben Sie vielen Dank, Herr Bayer. Es war ein fabelhafter Abend.«
»Ich heiße Franz«, keuchte der fette Mann.
»Ich nehme an, das ist alles, was Stuttgart an Nachtleben zu bieten hat«, bemerkte Miller, als er sich seinen Mantel anzog.
»Haha, mein Bester. Das ist alles, was du kennst. Stuttgart ist nämlich ein großartiges Städtchen. Wir haben hier ein halbes Dutzend erstklassiger Nachtlokale. Hast du Lust, eines zu besuchen?«
»Soll das heißen, daß es hier Nachtlokale mit Striptease und allem gibt?« fragte Miller mit ungläubig aufgerissenen Augen.
Bayer schnaufte vor Vergnügen.
»Na, und ob! Ich hätte durchaus nichts dagegen, jetzt noch ein paar ansehnlichen Stripperinnen zuzuschauen.«
Bayer bedachte das Garderobenmädchen mit einem großzügigen Trinkgeld und watschelte auf die Straße hinaus.
»Was für Nachtlokale gibt es denn in Stuttgart?« fragte Miller mit Unschuldsmiene.
»Lag mich mal überlegen – da ist das Moulin Rouge, das Balzac, das Imperial und die Sayonara-Bar. Dann gibt es da noch das Madeleine in der Eberhardstraße …«
»Eberhard? Na, so ein Zufall! So hieß mein Chef in Bremen, der mir aus dieser Schweinerei herausgeholfen und mich zu dem Anwalt nach Nürnberg geschickt hat!« rief Miller aus.
»Na bestens, dann also auf ins Madeleine«, meinte Bayer und ging Miller zum Wagen voran.
Mackensen warum Viertel nach elf im Gasthaus »Drei Mohren«. Er fragte den Empfangschef, der Ankunft und Aufbruch der Gäste überwachte.
»Herr Bayer? Ja, der war heute abend hier. Ist ungefähr vor einer halben Stunde weggegangen.«
»War er in Gesellschaft eines Mannes? Eines schlanken Mannes mit kurzem braunen Haar und Bärtchen?«
»Ja, das stimmt. Sie saßen da drüben an dem Ecktisch.‹«
Mackensen steckte dem Mann einen Zwanzigmarkschein zu, der widerspruchslos angenommen wurde.
»Es ist sehr wichtig, daß ich ihn finde. Es geht um einen dringenden Notfall. Seine Frau hat ganz plötzlich einen Kollaps bekommen, wissen
Weitere Kostenlose Bücher