Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
sind, mit einer Glasscherbe durchzuschneiden, ist unendlich mühsam. Bayers Gelenke waren schweißnaß; sie durchfeuchteten den Krawattenstoff. Dadurch zogen sich die Fesseln nur noch enger zusammen. Es war 7 Uhr morgens, und über den Dächern wurde es schon hell, als er die ersten Schnüre an seinem linken Handgelenk mit einer Glasscherbe durchtrennt hatte. Und es war fast acht, als sein linkes Handgelenk endlich frei war.
Um diese Zeit erreichte Millers Jaguar den Kölner Autobahnring östlich der Stadt. Noch 160 Kilometer bis Osnabrück. Ein Graupelregen ging in dichten Vorhängen auf die schlüpfrige Autobahn nieder, und der hypnotisierende Rhythmus der Scheibenwischer ließ Miller fast einschlafen.
Er drosselte das Tempo auf 120 Stundenkilometer; bei dem Wetter und seinem Zustand bestand die Gefahr, daß er von der Straße geriet und in die aufgeweichten Felder rechts und links neben der Fahrbahn raste.
Mit der befreiten linken Hand brauchte Bayer nur noch ein paar Minuten, um sich den Schal abzubinden und den Knebel aus dem Mund zu reißen. Dann lag er mehrere Minuten reglos da und schnappte gierig nach Luft. In dem Zimmer stank es entsetzlich nach Schweiß, Erbrochenem, Whisky und Angst. Er löste die verknoteten Fesseln an seinem rechten Handgelenk und zuckte zusammen, als ihm der Schmerz vom gebrochenen kleinen Finger her den Arm hinauffuhr. Dann befreite er seine Füße.
Sein erster Gedanke war die Tür, aber die war verschlossen. Er versuchte sein Glück mit dem Telefon, wobei er sich kaum auf den Füßen halten konnte, weil sie von der langen Abschnürung noch ganz gefühllos waren. Schließlich taumelte er zum Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und riß das Fenster auf.
In seiner Nische auf der anderen Seite der Straße war Mackensen trotz der Kälte nahe daran einzunicken, als er sah, wie gegenüber in Millers Hotelzimmer die Vorhänge zurückgezogen wurden. Mackensen riß die Remington an die Wange, wartete, bis die Gestalt hinter der Netzgardine das Fenster geöffnet hatte. Dann hielt er auf den Kopf und drückte ab.
Das Geschoß durchschlug Bayers Kehlkopf, und der ODESSA-Mann war schon tot, bevor sich sein massiger Körper aufbäumte und rückwärts zu Boden stürzte. Das Krachen des abgefeuerten Gewehrschusses würde der eine oder andere vielleicht für die Fehlzündung eines vorbeifahrenden Wagens halten, aber Mackensen war sich darüber im klaren, daß selbst zu dieser frühen Morgenstunde innerhalb von weniger als einer Minute irgend jemand Verdacht schöpfen und der Sache nachgehen würde.
Ohne noch einen zweiten Blick in das Zimmer gegenüber zu werfen, rannte er die Betontreppe zum Erdgeschoß hinunter. Er verließ den Neubau durch einen Hinterausgang und lief zwischen zwei Betonmischmaschinen und einem Schotterhaufen hindurch über den Hof. Innerhalb von sechzig Sekunden saß er in seinem Wagen, verstaute die Flinte im Kofferraum und fuhr davon.
Daß irgend etwas falsch gelaufen war, ahnte er schon, als er hinter dem Steuer saß und den Zündschlüssel ins Schloß steckte. Er vermutete, daß er einen Fehler begangen hatte. Der Werwolf hatte ihm den Mann, den er töten sollte, als groß und schlank beschrieben. Die Gestalt am Fenster, auf die er abgedrückt hatte, war die eines beleibten Mannes gewesen. Nach dem zu urteilen, was er gestern abend gesehen hatte, konnte es nur Bayer gewesen sein, den er erschossen hatte.
Nicht daß das ein allzu ernstes Problem bedeutet hätte. Angesichts des Toten auf dem Teppich in seinem Hotelzimmer blieb Miller nur noch die sofortige Flucht. Er würde natürlich zu seinem Jaguar rennen, der fünf Kilometer entfernt geparkt war. Mackensen fuhr den Mercedes zu der Stelle zurück, an der er den Jaguar zuletzt gesehen hatte. Ernstlich beunruhigt war er erst, als er feststellte, daß der Platz zwischen dem Opel und dem Mercedes-Benz-Laster leer war, auf dem der Jaguar am Abend zuvor in der ruhigen Villenstraße gestanden hatte.
Mackensen wäre nie der Henker der ODESSA geworden, hätte er nicht eiserne Nerven gehabt. Einige Minuten lang blieb er reglos am Steuer seines Wagens sitzen, ehe er auf die Tatsache, daß Miller bereits Hunderte von Kilometern weit weg sein konnte, zu reagieren begann.
Wenn Miller gegangen war, als Bayer noch lebte, dann entweder, weil er nichts aus ihm herausbekommen hatte – oder gerade weil er etwas herausbekommen hatte. Im ersten Fall war kein Schaden angerichtet worden; er würde Miller schon erwischen. Damit
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