Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
hörte sich errötend die Lobreden an, die seine Vorgesetzten auf seine gewissenhafte und sorgfältige Arbeit als Angestellter in ihren Diensten hielten, und verließ Hannover. In Antwerpen verkaufte er das Diamantenhalsband und machte zu einer Zeit, in der für Gold und Dollars alles weit unter Marktpreis zu haben war, in Osnabrück eine hübsche kleine Druckerei auf.
Er wäre nie mit der ODESSA in Berührung gekommen, wenn Molders seinen Mund gehalten hätte. Aber in Madrid prahlte Molders Freunden gegenüber mit seinem Kontaktmann in Deutschland, der jedem, der ihn darum bat, einen echten westdeutschen Paß auf einen falschen Namen ausstellte. Ende 1950 suchte ein »Freund« Winzer in Osnabrück auf, der sich dort gerade als Inhaber seiner Druckerei eingearbeitet hatte. Winzer blieb nichts anderes übrig, als zu kooperieren. Von da ab stellte er jedem ODESSA-Mann, der in Schwierigkeiten war, einen neuen Paß aus.
Das System war absolut sicher. Alles, was Winzer brauchte, war ein Lichtbild des Betreffenden und sein Geburtsdatum. Von den Angaben zur Person, die in den – im Archiv des Paßamts verwahrten – Antragsformularen aufgeführt worden waren, hatte er jeweils eine Kopie behalten. Er nahm einen Blankopaß und trug dort die bereits auf einem der Antragsformulare von 1949 vermerkten Angaben zur Person ein. Der Name war zumeist gebräuchlich und der Geburtsort weit hinter dem Eisernen Vorhang und somit nicht nachprüfbar. Das Geburtsdatum entsprach in den meisten Fällen dem wirklichen Alter des SS-»Antragstellers« ziemlich genau. Winzer drückte den Stempel der Paßbehörde des Landes Niedersachsen in den Paß, und der Inhaber unterzeichnete in seiner eigenen Handschrift mit seinem neuen Namen, wenn er den Paß erhielt.
Verlängerungen oder Neuausstellungen waren kein Problem. Nach fünf Jahren beantragte der Paßinhaber seinen neuen Paß beim Paßamt jeder beliebigen Landesregierung, außer der von Niedersachsen. Der Beamte, beispielsweise des bayerischen Paßamts, setzte sich dann mit seinem Kollegen in Hannover in Verbindung, um die Bestätigung einzuholen, daß dort einem Walter Schumann, geboren dann und dann in Soundso, ein Paß ausgestellt worden war. Sodann stellte er, durch die Auskunft aus Hannover beruhigt, seinen neuen Paß aus und versah ihn mit dem bayerischen Amtsstempel. Solange das Photo auf dem Antragsformular in Hannover nicht mit dem im Paß verglichen wurde, der in München vorlag – solange konnte nichts schiefgehen. Und ein solcher Vergleich fand auch tatsächlich nie statt. Dem Beamten kam es ausschließlich auf korrekt ausgefüllte und genehmigte Anträge und übereinstimmende Paßnummern an – nicht auf Gesichter.
Erst ab 1955, also mehr als fünf Jahre nach der Ausstellung des Passes in Hannover, mußte ihn der Inhaber erneuern lassen. War der gesuchte SS-Verbrecher erst einmal im Besitz eines Passes, bekam er auch einen neuen Führerschein und jedes andere Dokument, das seine neue Identität bestätigte. Bis zum Frühjahr 1964 hatte Winzer insgesamt zweiundvierzig von seinen ursprünglich sechzig Blankopässen ausgestellt.
Aber der kleine Mann war so klug gewesen, eine Vorsichtsmaßregel zu treffen. Er sagte sich, daß die ODESSA womöglich eines Tages auf seine Dienste würde verzichten wollen – und auf ihn selbst ebenfalls. Deswegen sicherte er sich ab. Die wahren Namen seiner Klienten waren ihm nicht bekannt; um einen Paß auf einen falschen Namen auszustellen, war es nicht erforderlich, daß er sie erfuhr. Aber für seine Absicherung war das belanglos. Von jedem Photo, das ihm zugeschickt wurde, machte er eine Kopie, die er behielt; das Original klebte er in den Paß für den Absender. Die Kopie klebte auf einem Bogen Kanzleipapier, wo er den neuen Namen, den Wohnort (der in westdeutschen Pässen angegeben werden muß) und die neue Paßnummer mit Schreibmaschine vermerkte.
Die Bogen verwahrte er in einem Aktenhefter. Diese Akte war seine Lebensversicherung. Er behielt eine Ausfertigung in seinem Haus, und eine zweite lag bei einem Anwalt in Zürich. Wenn ihm die ODESSA jemals nach dem Leben trachtete, konnte er sie auf die Existenz der Akte hinweisen. Dann mußte die ODESSA begreifen, daß der Züricher Anwalt die Kopie den westdeutschen Behörden zuleiten würde, sobald ihm, Winzer, irgend etwas zustieß.
Die Westdeutschen würden die Photos mit ihrem Naziverbrecher-Album vergleichen. Schon die Paßnummer würde ihnen nach Rückfragen in allen zehn
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