Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
Landeshauptstädten den Aufenthaltsort des Paßinhabers verraten – die Entlarvung dauerte dann nicht länger als eine Woche. Es war ein garantiert sicheres System. Es ermöglichte Winzer, am Leben und bei guter Gesundheit zu bleiben.
Das also war der Mann, der an jenem Freitagmorgen kurz nach acht beim Frühstück saß, gemächlich seinen Toast mit Marmelade kaute, seinen Kaffee schlürfte und gerade die erste Seite des »Osnabrücker Tageblatts« überflogen hatte, als das Telefon schrillte. Die Stimme des Anrufers klang zuerst herrisch, dann aber merklich sanfter und offenbar bemüht, beruhigend zu wirken.
»Es kann gar keine Rede davon sein, daß wir Ihnen etwa Schwierigkeiten machen wollen«, versicherte der Werwolf. »Es ist nur wegen dieses verdammten Reporters. Wir haben lediglich einen Hinweis erhalten, daß er unterwegs ist, um Sie aufzusuchen. Kein Grund zur Besorgnis. Einer von unseren Männern ist ihm hart auf den Fersen, und die ganze Geschichte wird sich noch heute erledigt haben. Aber Sie müssen innerhalb von zehn Minuten das Haus verlassen. Was Sie machen sollen, ist folgendes …« Winzer packte aufgeregt eine kleine Reisetasche. Er sah zögernd den Safe mit der Akte an. Er beschloß, daß er sie nicht brauchte, und ließ sie an ihrem sicheren Ort. Dem überraschten Hausmädchen Barbara kündigte er an, er werde an diesem Vormittag nicht in das Druckereikontor gehen. Vielmehr trete er einen kurzen Erholungsurlaub in den österreichischen Alpen an. Frische Bergluft sei das beste Mittel, um sich wieder fit zu machen.
Barbara war immer noch sprachlos vor Staunen und stand mit offenem Mund an der Tür, als Winzers neuer Kadett – das kleine Opel-Modell war gerade erst auf den Markt gekommen – schon rückwärts die Auffahrt hinunterschoß, in die Villenstraße vor seinem Haus einbog und davonfuhr. Kurz nach neun befand er sich auf der Straße, die nach Süden zur Autobahn führte. Als der Kadett auf der stark befahrenen Landstraße einen Laster überholen wollte, scheuchte ihn ein entgegenkommender Sportwagen mit nervösem Aufblinken in die Reihe zurück. Winzer bemerkte nicht, daß es ein Jaguar war.
Am Saarplatz, nahe am Westrand der Stadt, fand Miller eine Tankstelle. Übermüdet kletterte er aus dem Wagen. Seine Muskeln schmerzten, und sein Nacken fühlte sich an, als habe er sich eben erst dem Dauergriff eines Ringkämpfers entwunden. Der Wein vom Abend zuvor hatte einen merkwürdigen Geschmack in seinem Mund hinterlassen. Miller mußte an Papageiendreck denken.
»Super«, sagte er. »Bitte vollmachen. Gibt es hier eine Telefonzelle?«
»Da drüben an der Ecke«, sagte der Tankwart.
Auf dem Weg dorthin kam Miller an einem Kaffee-Automaten vorüber und nahm einen Pappbecher mit heißem Kaffee in die Fernsprechzelle mit. Er blätterte in dem Osnabrücker Telefonbuch. Es gab mehrere Winzers, aber nur einen Klaus Winzer. Der Name war doppelt eingetragen. Der erste Eintrag hatte den Zusatz » Druckerei «, der zweite die Abkürzung » priv. « . Es war 9 Uhr 40 – reguläre Arbeitszeit. Er rief in der Druckerei an.
Der Mann, der sich am Apparat meldete, war offenbar der Druckermeister. »Tut mir leid, er ist noch nicht da«, sagte er. »Normalerweise kommt Herr Winzer immer Punkt neun. Ich erwarte ihn jeden Augenblick. Rufen Sie doch in einer halben Stunde noch mal an.«
Miller dankte ihm und überlegte sich, ob er in der Privatwohnung anrufen solle. Lieber nicht. Wenn er zu Hause war, wollte Miller ihn selbst sprechen. Er merkte sich die Adresse und verließ die Telefonzelle.
»Wo ist die Silcherstraße?« fragte er den Tankwart, als er die Benzinrechnung bezahlt und festgestellt hatte, daß von seinen Ersparnissen nur noch 500 DM übrig waren. Der junge Mann deutete mit einem Kopfnicken zur anderen Straßenseite hinüber.
»In der Richtung liegt es«, sagte er. »In Westerberg. Da wohnen die feinen Leute.«
Miller kaufte einen Stadtplan, um die Straße zu suchen. Keine zehn Minuten später hielt er vor Winzers Haus.
Es war das Heim eines begüterten Mannes. Das ganze Viertel machte auf gepflegten Wohlstand. Miller ließ den Jaguar unten an der Auffahrt stehen und ging den Weg zur Haustür hinauf.
Das Mädchen, das ihm öffnete, war noch keine Zwanzig und sehr hübsch. Sie lächelte ihn strahlend an.
»Guten Morgen. Ich hätte gern Herrn Winzer gesprochen«, sagte Miller.
»Ooh, er ist nicht da. Er ist vor etwa einer Stunde weggefahren.«
Miller ließ sich nicht entmutigen.
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