Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
der amerikanischen Luftwaffe, waren hervorragend; kein Wunder, denn er hatte sie selbst geschrieben. Der britische Major, der ihn interviewte, setzte die Teetasse ab und erklärte dem Bewerber:
»Ich hoffe, Sie sind sich darüber im klaren, wie wichtig es ist, daß die Leute stets ordnungsgemäße Papiere bei sich führen.«
Mit großem Ernst versicherte Winzer dem Major, daß er sich dessen vollauf bewußt sei. Zwei Monate später kam seine große Chance. Er saß allein in einer Kneipe und trank sein Bier, als ein Mann mit ihm ins Gespräch kam. Sein Name war Herbert Molders. Er vertraute Winzer an, daß er von den britischen Militärbehörden wegen Kriegsverbrechen gesucht werde und Deutschland unbedingt verlassen müsse. Aber nur die Engländer stellten Pässe für Deutsche aus, und er wagte es nicht, einen Paß zu beantragen. Winzer entgegnete, daß sich das möglicherweise deichseln ließe, aber Geld kosten würde.
Zu seinem Erstaunen zog Molders ein echtes Diamantenhalsband aus der Tasche. Winzer vermutete, woher es kam.
Eine Woche später stellte Winzer, dem Molders ein Photo von sich gegeben hatte, den Paß aus. Er war sogar echt. Winzer brauchte ihn gar nicht zu fälschen.
Das System, nach dem das Paßamt arbeitete, war sehr einfach. In der Abteilung Eins erschienen die Antragsteller, füllten ein Antragsformular aus und hinterließen ihre mitgebrachten Papiere und amtlichen Unterlagen. Abteilung Zwei überprüfte die Geburtsurkunden, Personalausweise, Führerscheine und so weiter auf mögliche Fälschungen und stellte fest, ob Namen von Antragstellern auf der Kriegsverbrecher-Fahndungsliste auftauchten. Wenn keine Bedenken bestanden, reichten sie den Antrag mit einer vom Abteilungsleiter unterzeichneten Befürwortung an die Abteilung Drei weiter. Abteilung Drei entnahm bei Erhalt der Befürwortung durch Abteilung Zwei dem Safe einen Blankopaß, füllte ihn aus und fügte das Photo des Antragstellers ein. Der konnte den Paß dann zumeist schon nach einer Woche abholen.
Es gelang Winzer, sich in Abteilung Drei versetzen zu lassen. Er füllte das Antragsformular für Molders auf einen neuen Namen aus, schrieb eine Befürwortung auf den entsprechenden Vordruck von Abteilung Zwei und fälschte die Unterschrift des betreffenden britischen Offiziers.
Dann ging er in die Abteilung Zwei hinüber, legte Molders’ Antrag zusammen mit der Befürwortung zu den neunzehn bereits befürworteten Anträgen, die dort zur Abholung bereitlagen, und trug den Stapel in Major Johnstons Zimmer. Major Johnston prüfte nach, ob zwanzig ausgefüllte und unterschriebene Befürwortungsvordrucke vorlagen, ging an sein Safe, holte zwanzig Blankopässe heraus und überreichte sie Winzer. Winzer füllte sie ordnungsgemäß aus, versah sie mit dem amtlichen Stempel und händigte den neunzehn wartenden Antragstellern neunzehn Pässe aus. Den zwanzigsten Paß steckte er ein. In den dafür vorgesehenen Aktenordner heftete er zwanzig Anträge ab, damit ihre Anzahl mit derjenigen der ausgestellten Pässe übereinstimmte.
An jenem Abend überreichte er Molders den neuen Paß und nahm das Diamantenhalsband entgegen. Er hatte sein neues Metier gefunden.
Im Mai 1949 wurde die Bundesrepublik gegründet und das Paßamt in Hannover der Regierung des Landes Niedersachsen übergeben. Winzer blieb auf seinem Posten. Er hatte keine Kunden mehr. Er brauchte auch keine. Allwöchentlich füllte er sorgfältig ein Paßantragsformular aus, versah es mit dem en face aufgenommenen Lichtbild irgendeiner anonymen Person, das er von einem Studiophotographen besorgte, fälschte einen Befürwortungsvordruck mitsamt der Unterschrift des Leiters der Abteilung Zwei (der jetzt ein Deutscher war) und ging dann mit einem Packen bereits bearbeiteter Anträge und Befürwortungen zum Leiter der Abteilung Drei. Solange die Anzahl der Anträge und Befürwortungen übereinstimmte, erhielt er jedesmal anstandslos einen Stapel Blankopässe. Bis auf einen wurden sie auch allesamt den Antragstellern ausgehändigt. Der letzte Blankopaß wanderte in seine Tasche. Alles, was er darüber hinaus benötigte, war der amtliche Stempel. Es wäre nicht unbemerkt geblieben, wenn er ihn gestohlen hätte. Er nahm ihn über Nacht mit nach Hause, und am nächsten Tag besaß er einen Abguß vom Dienststempel des Paßamts der Landesregierung von Niedersachsen.
Innerhalb von sechzig Wochen brachte er auf diese Weise sechzig Blankopässe in seinen Besitz. Er reichte seine Kündigung ein,
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