Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
Zweifellos war Winzer auf dem Weg in seine Druckerei. Vielleicht war er unterwegs durch irgendeine Verkehrsstauung aufgehalten worden.
»Wie schade, ich hatte gehofft, ihn noch zu erwischen, bevor er in die Druckerei fährt.«
»Er ist nicht in die Druckerei gefahren. Heute morgen nicht. Er ist in Urlaub gefahren«, berichtete das Mädchen bereitwillig.
Miller zwang sich, ein Gefühl der Panik niederzukämpfen, das ihn zu überkommen drohte.
»Urlaub? Das ist aber ungewöhnlich zu dieser Jahreszeit. Übrigens«, log er, »waren wir für heute verabredet. Er hat mich ausdrücklich gebeten, herzukommen.«
»Ach, wie dumm«, sagte das Mädchen bekümmert. »Und er ist so plötzlich aufgebrochen. Erst kam ein Anruf, und sofort danach ist er rauf, nach oben, und sagt: ›Barbara, ich fahre in Urlaub nach Österreich. Nur für eine Woche‹, sagt er. Also sonst packt er nie so überstürzt, wenn er wegfährt. Sagt nur gerade noch, ich soll die Druckerei anrufen und Bescheid sagen, daß er eine Woche lang nicht kommt, und weg ist er. Sieht ihm gar nicht ähnlich, so was. So ein stiller, ruhiger Herr.«
Millers Hoffnung schwand.
»Hat er gesagt, wohin er fährt?« fragte er.
»Nein. Nichts. Nur, daß er in die österreichischen Alpen wollte.«
»Keine Adresse, wohin die Post nachgeschickt werden soll? Keine Möglichkeit, sich mit ihm in Verbindung zu setzen?«
»Nein, das ist ja das merkwürdige. Ich meine, was soll die Druckerei machen? Ich habe gerade eben dort angerufen. Die waren ganz verzweifelt, wo doch so viele Dinge erledigt werden müssen.«
Miller überlegte rasch. Winzer hatte einen Vorsprung von einer Stunde, auf der Landstraße hatte er demnach schon etwa 80 Kilometer zurückgelegt. Das bedeutete, daß Miller mehr als zwei Stunden brauchte, bis er Winzer eingeholt hätte – zu lange. In zwei Stünden konnte er schon überall sein. Außerdem war es nicht erwiesen, daß er auch tatsächlich nach Süden in Richtung Österreich fuhr.
»Könnte ich dann vielleicht mit Frau Winzer sprechen?« fragte er.
Barbara kicherte und sah ihn schalkhaft an.
»Es gibt keine Frau Winzer«, sagte sie. »Kennen Sie Herrn Winzer denn nicht?«
»Nein, ich bin ihm nie begegnet.«
»Nun, er ist kein Mann, der heiratet. Ich meine, er ist sehr nett und alles, aber an Frauen ist er nicht wirklich interessiert. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Dann lebt er also ganz allein hier?«
»Von mir abgesehen, ja. Ich meine, ich wohne auch hier. Aber was das betrifft, ist es für mich wirklich ganz sicher.« Sie kicherte.
»Ich verstehe. Vielen Dank«, sagte Miller und wandte sich zum Gehen.
»Gern geschehen«, sagte das Mädchen und blickte ihm nach, als er die Auffahrt hinunterging und in den Jaguar kletterte. Der Jaguar hatte schon vorher ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie fragte sich, ob sie nicht den netten jungen Mann auffordern konnte, die Nacht bei ihr zu verbringen, jetzt, wo Herr Winzer fort war. Sie sah den Jaguar mit donnerndem Auspuff davonfahren, seufzte und schloß die Tür.
Miller spürte, wie ihn jetzt, nach der jüngsten Enttäuschung, die Müdigkeit doppelt stark überkam. Er vermutete, daß Bayer sich aus seinen Fesseln befreit und vom Hotel aus Winzer telefonisch gewarnt hatte. Miller war seinem Ziel so nahe gewesen – er hatte es bloß um 60 Minuten verfehlt. Jetzt fühlte er nur noch das brennende Verlangen nach Schlaf.
Er fuhr an den mittelalterlichen Wallanlagen entlang, die die Altstadt umschlossen, und folgte dem Weg des Stadtplans zum Theodor-Heuss-Platz. Er parkte den Jaguar vor dem Hotel Hohenzollern, auf der dem Bahnhof gegenüberliegenden Seite des Platzes.
Er hatte Glück, es war noch ein Zimmer frei. Er konnte gleich hochgehen, sich ausziehen und aufs Bett legen. Ein vages Gefühl sagte ihm, daß er irgendein winziges Detail vergessen hatte. Aber bevor er zum Nachdenken kam, hatte ihn schon der Schlaf übermannt. Es war 10 Uhr 30.
Mackensen erreichte das Stadtzentrum von Osnabrück um 13 Uhr 30. Auf dem Weg dorthin hatte er einen Abstecher zu Winzers Haus im Stadtviertel Westerberg gemacht, aber keinen Jaguar vorgefunden. Bevor er Winzers Haus einen Besuch abstattete, wollte er den Werwolf anrufen, um zu hören, ob es Neuigkeiten gab.
Das Postamt liegt an der linken Seite des Theodor-Heuss-Platzes, wenn man vom Bahnhof aus blickt; das Hotel Hohenzollern liegt dem Bahnhof gegenüber. Mackensen parkte vor dem Postamt und verzog sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. Der
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