Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
einen Dämmerzustand.
Draußen auf dem Gang wartete der Arzt.
»Ich glaube wirklich, daß es jetzt an der Zeit ist, den Besuch zu beenden«, sagte er.
Miller nickte.
»Ja, sie schläft«, sagte er, und nach einem raschen Blick auf die Patientin brachte ihn der Arzt zum Ausgang.
»Wie lange, glauben Sie, daß sie noch zu leben hat?« fragte Miller.
»Das ist sehr schwer zu sagen. Zwei Tage, vielleicht drei. Mehr nicht. Es tut mir leid.«
»Nun, haben Sie jedenfalls herzlichen Dank dafür, daß Sie mir erlaubten, sie noch einmal zu sehen«, sagte Miller. Der Arzt hielt ihm die Tür auf. »Oh, da ist noch etwas, Doktor. Wir sind alle katholisch in unserer Familie. Sie bat mich um einen Priester. Die Letzte Ölung, verstehen Sie?«
»Ja, selbstverständlich.«
»Werden Sie dafür sorgen?«
»Gewiß«, sagte der Arzt. »Ich wußte es nicht. Ich werde noch heute nachmittag alles veranlassen. Ich danke für den Hinweis. Guten Tag.«
Es war später Nachmittag geworden, und die Dämmerung ging bereits in Dunkelheit über, als Miller zum Theodor-Heuss-Platz zurückfuhr und den Jaguar zwanzig Meter vom Hotel entfernt parkte. Er überquerte die Straße, ging durch die Hotelhalle und fuhr mit dem Lift in sein Zimmer hinauf. Zwei Stockwerke höher hatte Mackensen vom Fenster seines Zimmers aus Millers Ankunft beobachtet. Er nahm seine Reisetasche mit der Bombe, fuhr ins Foyer, zahlte seine Rechnung für die kommende Nacht und erklärte, daß er am nächsten Morgen in aller Frühe aufbrechen müsse. Dann ging er zu seinem Wagen. Er manövrierte ihn an eine Stelle, von der aus er den Hotelausgang und Millers Jaguar im Auge behalten konnte. Er richtete sich auf eine längere Wartezeit ein.
Es waren immerhin noch viele Menschen unterwegs. Er konnte sich an dem Jaguar noch nicht zu schaffen machen. Außerdem – vielleicht kam Miller in jedem Augenblick wieder aus dem Hotel heraus. Wenn er losfuhr, bevor die Bombe gelegt war, würde Mackensen ihn ein paar Kilometer hinter Osnabrück auf offener Landstraße erledigen und den Aktenkoffer an sich nehmen. Verbrachte Miller die Nacht im Hotel, legte er die Bombe in den ersten Morgenstunden, wenn kein Mensch mehr unterwegs war.
In seinem Hotelzimmer zermarterte sich Miller das Hirn, um auf einen Namen zu kommen, der ihm nicht einfallen wollte. Er sah das Gesicht des Mannes vor sich, besann sich aber nicht auf den Namen.
Es war kurz vor Weihnachten 1961 gewesen. Miller hatte auf der Pressebank beim Landgericht Hamburg auf die Eröffnung eines Prozesses gewartet, der ihn interessierte; er war jedoch so früh gekommen, daß er das Ende der vorangegangenen Verhandlung miterlebte. Auf der Anklagebank saß ein frettchengesichtiges Männchen, und der Verteidiger bat um Milde unter Hinweis auf die bevorstehende Weihnachtszeit und die Tatsache, daß der Angeklagte Frau und Kinder habe.
Miller erinnerte sich, daß ihm das blasse, bekümmerte Gesicht der Frau des Angeklagten aufgefallen war. Sie hatte die Hände verzweifelt vor das Gesicht geschlagen, als der Richter ihren Mann zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilte und erklärte, ohne die von der Verteidigung geäußerte Bitte um Milde wäre die Strafe noch weit härter ausgefallen. Die Anklage hatte den Angeklagten als einen der geschicktesten Safeknacker Hamburgs geschildert.
Vierzehn Tage später war Miller in einer der Nebenstraßen der Reeperbahn in eine Bar eingekehrt, um mit einigen seiner Kontaktleute aus der Unterwelt ein Gläschen zu trinken. Er hatte reichlich Geld, denn er war an diesem Tag für ein großes Photo-Feature honoriert worden. Am anderen Ende des Raums schrubbte eine Frau den Fußboden. Er hatte das bekümmerte Gesicht der Frau des Safeknackers wiedererkannt, der vor zwei Wochen verurteilt worden war. In einem Anfall spontaner Großzügigkeit, den er bald darauf bereute, hatte er ihr einen Hundertmarkschein in die Schürzentasche gesteckt und war gegangen.
Im Januar war ein Brief aus dem Gefängnis gekommen. Die Frau mußte den Barmixer nach seinem Namen gefragt und ihrem Mann von dem fremden Wohltäter erzählt haben. Der Brief war an ein Magazin geschickt worden, für das er gelegentlich arbeitete. Die Leute dort hatten ihn an Miller weitergeleitet.
»Lieber Herr Miller,
meine Frau schrieb mir, was Sie kurz vor Weihnachten für sie getan haben. Ich habe Sie nie gesehen, und ich weiß nicht, warum Sie das getan haben, aber ich möchte Ihnen sehr herzlich dafür danken. Das Geld hat Doris und den Kindern
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